Vorwort

   Eine Anmerkung zu U.G.

von

Jeffrey Moussaieff Masson

  

Mit Neti neti haben die alten Upanischaden die Weisheit beschrieben: Sie ist 'Nicht dieses, nicht jenes'. Man kann sie nicht charakterisieren. Ebenso ist es mit U.G. Krishnamurti: Versuchen Sie einmal, mit jemandem einen Dialog über U.G. zu führen, und Sie werden sehen, in welche Schwierigkeiten Sie sich damit begeben. 

Freund: Ich habe gehört, daß du gestern Abend U.G. Krishnamurti besucht hast. Ich habe keine Ahnung, wer er ist. Kannst du es mir sagen? 

Ich: (In dem Moment, in dem ich versuche, den Leuten etwas über ihn zu erzählen, wird mir klar, wie außerordentlich schwer es mir fällt, ihn zu beschreiben). Er ist ein Anti-Guru. Nein, nicht wirklich. Ein Mann, der grundsätzlich jede Art von Lehre ablehnt.

 Freund: Was tut er ? 

Ich: Nun, er lehrt. Nein, so ist es nicht. Er sitzt in den Häusern anderer Menschen herum.  

Freund: Er lebt also auf Kosten anderer? 

Ich: Nein, er verfügt über eigenes Vermögen. Nun, vielleicht ist er nicht vermögend, aber auf jeden Fall unabhängig. 

Freund: Und was tut er, wenn er herumsitzt? 

Ich: Er redet. Über Gurus, und wie sehr er sie haßt, und was für Scharlatane sie alle miteinander sind. 

Freund: Wer hört ihm zu? 

Ich: Eine Gruppe von Leuten. Ich weiß schon, was du denkst, aber nein, das sind keine Schüler. Es sind Anti-Schüler.  

Freund: Woran merkt man das? 

Ich: Nun, sie machen sich über ihn lustig, sie streiten mit ihm, sie beleidigen ihn. Sie behandeln ihn absolut nicht so, wie man einen Guru behandeln sollte. Und wenn sie es doch tun (und manche versuchen das), dann wird er wütend und straft sie mit Verachtung. Er mag das wirklich nicht. 

Freund: Aber er scheint doch einige der Eigenschaften zu besitzen, die man gemeinhin einem Guru zuschreibt: er bereist viele Länder, er wird bekannt, und die Menschen kommen, um ihn sprechen zu hören. Er spricht. Er predigt, oder, vielmehr, er anti-predigt. 

Ich: Du hast recht. Alles, was er macht, ist das Spiegelbild dessen, was auch ein Guru tut, nur eben anders herum. Er kehrt alles von unten nach oben. Das ist Teil der Anziehungskraft, die er auf die Menschen ausübt. Es ist faszinierend ihm zuzuschauen. Ich habe gesehen, daß mein eigener Vater, der seit sechzig Jahren nach einem Guru sucht, wie hypnotisiert vor ihm saß und sich mit aller Kraft gegen U.G.s Widerstand wehrte, von ihm zu einem Guru gemacht zu werden. Mein Vater möchte, daß er ein Guru ist, er verlangt danach, daß er doch ein Guru sein möge, aber paradoxerweise bewundert er ihn schließlich wahnsinnig genau dafür, daß er kein Guru ist. So sehr also, daß U.G. sein Guru ist.  

Ich glaube, das gleiche gilt auch für andere, wie zum Beispiel Julie, die wunderbare Julie. Sie läuft ihm hinterher. Er gibt ihr eine Ohrfeige (bildlich gesprochen, d.h. er beleidigt sie). Julie fliegt nach Bangalore, um bei ihm zu sein. „Verschwinden Sie von hier“, sagt er zu ihr, „Ihre Verehrung widert mich an.“ Er meint das. Sie versucht herauszufinden, wo in diesem Kommentar der Zen-Koan stecken könnte. Er will, daß sie aufhört, aber sie ist der festen Meinung, daß er sie mittels Parabel und Paradox belehre – Belehrung durch Beleidigung. Aber er mag sie auch, er kann nicht anders, ein jeder tut das. Sie gibt nicht auf. Sie ist wohlhabend und will ihm ein Haus, ein Apartment, ein Einkommen bieten. Er straft sie mit Verachtung. Es ist wirklich angewidert und ärgerlich. Er braucht das alles nicht, und täte er es, würde er es nicht annehmen. Und doch kommt sie immer wieder. Und er läßt es zu. 

Der gleiche Tanz vollzieht sich in hundert unterschiedlichen Schritten auch mit seinen anderen ‘Freunden’ (das ist der einzige Terminus, den er akzeptiert). Er ist eine bezwingende Persönlichkeit, das steht außer Zweifel.  

Und ich? Wie stehe ich zu all dem? Ich mag ihn, man muß ihn einfach mögen. Er ist sehr amüsant, er ist völlig menschlich, er ist herrlich unspirituell. Er ist gescheit und lebhaft und herzlich. Ein Freund. Warum aber rede ich, wenn ich diesen Freund besuche, so viel über Gurus und Anti-Gurus und dieses ganze Phänomen? Warum ist denn auch er so außerordentlich an diesem Thema interessiert? Er wiederholt sich. Ich wiederhole mich. Er kommt nach Kalifornien, und ich gehe zu ihm. Wir sprechen beide darüber, wie viele Scharlatane es in der Welt der Gurus gibt. Will er so auf subtile Weise andeuten, daß er nicht einer dieser Scharlatane ist? Nein, das ist ein ernsthafte Stellungnahme, eine Beobachtung. Aber die trifft er immer und immer wieder, auf tausenderlei verschiedene Arten, bis zum Abwinken. Und doch ist es niemals langweilig. Es ist unendlich faszinierend.

 Der Hauptgrund für diese Faszination liegt in der Person U.G. Krishnamurtis selbst. Denn während er jeder einzelnen Eigenschaft eines Guru abschwört, spricht er auch von seinem seltsamen Leben. Ihm sind bizarre Dinge zugestoßen, die anderen gewöhnlichen Menschen nicht passieren (die aber merkwürdige Parallelen zu mystischen Erfahrungen im umgekehrten Sinne aufweisen). Er hatte eine ‘Kalamität’, die ihn beinahe umgebracht hätte. Er macht dunkle Andeutungen darüber. Andere Mystiker sind ‘erleuchtet’. Er ist auf eine mächtige Weise anti-erleuchtet. Alles, was er ist, ist darauf angelegt, dem traditionellen Guru so unähnlich wie möglich zu sein. Und doch, selbst wenn das aus gegenteiligen Gründen so sein mag, hat auch er keine Begierden, er schläft kaum, träumt nicht und ißt kein Fleisch. Er hat etwas von einer bezwingenden Reinheit, er hat eine Art, mit der er unsere Sehnsucht, die wir alle nach einem wirklich weisen menschlichen Wesen zu hegen scheinen, für sich vereinnahmt. 

Ich würde mich nicht scheuen, U.G. als einen Mann der Weisheit zu charakterisieren; er ist nicht genau wie der in der Bhagavad Gita beschriebene Sthitaprajna, er ist ihm aber auch nicht ganz unähnlich. Er ist ein Paradoxon, ein Wunder, ein unglaublicher Mensch, ein herausragendes menschliches Wesen.

 

Jeffrey Moussaieff Masson

Berkeley, Californien

November 1995

 

Jeffrey Masson ist der Autor von:  

Final Analysis: The Making and Unmaking of a Psychoanalyst; Against Therapy; The Oceanic Feeling: The Origins of Religious Sentiment in Ancient India; My Father’s Guru: A Journey through Spiritualitiy and Disillusion; When Elephants Weep. 

Auf deutsch sind erschienen: Hunde lügen nicht. Die großen Gefühle unserer Vierbeiner; Der Guru meines Vaters; Was hat man dir, du armes Kind getan. Oder: Was Freud nicht wahrhaben wollte; Wie Tiere fühlen; Wenn Väter lieben. Aus dem Familienleben der Tiere; Wenn Tiere weinen; Die Abschaffung der Psychotherapie. Ein Plädoyer.

 

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