Ein Vorgeschmack des Todes
 
Dreißig Tage mit U.G. in der Schweiz
von
Mahesh Bhatt
Gstaad, im Sommer 1995
Übersetzung aus dem Englischen von Ulla Inayat-Khan
 
 
 
 

10. Juli 1995 ... ERSTER TAG

In Zürich ist es heiß, sehr heiß. In Europa herrscht die größte Hitzewelle seit Jahren. U.G. empfängt mich am Flughafen zusammen mit Sushma (dem französischen Ex-Rajneesh-Anhänger, der einmal Apotheker war). Wir fahren zum Hotel, das in einer anrüchigen Gegend gelegen ist. Unser Hotel liegt eingeklemmt zwischen zwei Sex-Shops. Wir nehmen unser Lunch in einem vegetarischen Restaurant ein. Das Essen wird nach Gewicht berechnet. Am späten Abend erscheint Mario zusammen mit "Gorgeous" (Lisa). Auch Mario, und Lisa, waren vor nicht allzulanger Zeit noch Rajneeshis. "Ich konnte keine Abbilder der Göttin Lakshmi verkaufen, und ebensowenig ist es mir gelungen, auf der Messe in München die Buddhas zu verkaufen", sagt Mario bei der Ankunft. U.G. lacht.

Früh am nächsten Morgen brechen wir nach Gstaad auf. "Mahesh ist ein Workaholic", sagt U.G. "Ohne seine Arbeit ist er verloren. Wie wird er einen Monat in Gstaad überleben können?" Ich sage zu mir selbst: "Ich muß einen Artikel über Workaholismus schreiben." Spät am Abend höre ich die Kirchenglocken läuten und überlege mir, wieviel Uhr es jetzt zu Hause in Indien ist. Beim Spaziergang in Zürichs Straßen fällt mir auf, daß ich mehr an den Kindern und den Babies im Kinderwagen interessiert scheine als an den sogenannten 'sexy Ladies'. Ich überlege, ob das die Anzeichen der Midlifekrise sind. Was sollte man mit sechsundvierzig schon anderes erwarten?

Der Lärm von sich streitenden Prostituierten vermischt sich mit dem Alarm eines Autos. Ich werfe mich die ganze Nacht über in meinem Bett hin und her. Als ich schließlich doch einschlafe, hallen U.G.s Worte in mir wider: "Wenn Sie es sich nicht selbst sagen, wo Sie sind, woher wissen Sie dann, daß Sie in Zürich sind?" Und wenn ich mir nicht selbst sage, daß ich es bin, der in diesem Bett schläft, wie würde ich dann wissen, daß ich es bin?

Plötzlich bin ich voller Angst.
 

11. Juli ... ZWEITER TAG

Als wir im Morgengrauen unser Hotel verlassen wollen, ist da niemand, bei dem wir unsere Rechnung bezahlen können. Schließlich hilft uns ein gewichtig aussehender betrunkener Portier aus. "Für einen Portier hat er seine Sache als Empfangschef gut gemacht", sagt U.G., während wir in den kühlen Morgen hinausgehen und unseren Weg durch die verlassenen und nicht allzu sauberen Straßen Zürichs gehen. Der Glockenturm der Stadt zeigt zehn Minuten vor sechs. Zürich erwacht zu einem neuen Tag. Die blauen Straßenbahnen erinnern mich an die roten Trambahnwagen im Bombay meiner Kindheit.

Wir fahren in Sushmas Auto. "Es gibt nichts, was man mit Geld nicht kaufen könnte," sagt U.G., als er den alten Beatlessong 'Can't Buy Me Love' hört, der aus Sushmas Kassettenrekorder tönt. "Sehen Sie sich ihr eigenes Leben an; die Beatles konnten einander nicht lieben und mußten sich schließlich trennen. Ihr einziges Credo bestand darin, Liebeslieder zu singen, um damit Geld zu verdienen..." Wie wahr. Ohne das Wort 'Liebe' würde die ganze Musikbranche in sich zusammenbrechen. Können Sie sich die Welt ohne 'Lovesongs' vorstellen? Wir alle in der Film- und Unterhaltungsindustrie wären arbeitslos.

Das erinnert mich daran, was mir meine Frau, Soni, gestern am Telephon gesagt hat: "Ich kann nicht jeden Tag diese langen Telephongespräche mit Dir führen, Mahesh, das ist viel zu teuer. Ruf Du mich an!" Ich bin verletzt. "Ich verstehe," sage ich, und versuche, sehr gereift zu erscheinen. Bevor sie den Hörer auflegt, sagt sie: "Und verlier' nicht wieder Dein ganzes Geld!" Und dann murmelt sie ein flüchtiges "Ich liebe Dich", und legt auf.

Wir befinden uns neununddreißig Kilometer vor Bern. Die sinnliche Stimme einer Frau erklingt aus dem Kassettenrekorder. "Lieben Sie die Musik, U.G.?" frage ich, während ich meinen Kopf zwischen die beiden Vordersitze schiebe. "Ich ziehe das Bellen eines Hundes, das Grunzen eines Schweins und das Wiehern eines Pferdes vor. In ihnen ist Leben, eine Vitalität. Musikhören ist eine sinnliche Beschäftigung..."

"Sogar Bhajans und Hymnen?" frage ich. "Ja, alles. Tatsächlich ist Ihr Gott das ultimative Vergnügen, das Sie geschaffen haben..." Draußen auf den Feldern läßt das orangefarbene Glänzen der Morgensonne jeden Grashalm erstrahlen.

Als wir um sieben Uhr morgens in Bern ankommen, geraten wir in einen Stau. U.G. sagt: "Die Menschen sind überall die gleichen. Dieser Schweizer vor uns, der auf den Verkehr flucht, ist nicht anders als ein Mensch, der das gleiche in Bombay oder Madras tut."

Gstaad:

"Die Beziehung, die Sie zu Geld haben, besagt alles. Als Valentine gestorben ist, habe ich Chandrasekhar gebeten, das Gold aus ihren Zähnen zu entfernen, bevor sie kremiert wurde. Wissen Sie, daß die katholische Kirche 20 Millionen Dollar als Wiedergutmachung an diese Jungen bezahlt hat, die von den Priestern mißbraucht worden sind?"

"Jeder einzelne von Ihnen ist allein und zur Gänze für die Slumsituation in Bombay verantwortlich. Fünfundsiebzig Prozent der Menschen in Bombay leben in Slums, und Menschen wie Sie und ich sind Schuld daran."

Etwas sagt mir, daß dieser Sommer mit U.G. heiß werden wird. Sagt man nicht, daß das Licht dann am hellsten leuchtet, bevor es verlöscht?

Nach dem Abendessen besprechen U.G. und ich mit Marisa, der italienischen Bildhauerin, Bodil, dem schwedischen Maler und Professor Gottfried Meyer, dem deutschen Maler, das Thema meines neuen Films über eine alternde Schauspielerin.

"Rekha ist dir richtige Wahl für die Rolle, Mahesh. Sie muß sich gerade mit diesem Problem herumschlagen. Der Film wird durch sie authentisch wirken," sagt U.G.

Die Beziehung zwischen weiblicher Schönheit und Macht, die Östrogentherapie und die Suche des Menschen nach Fortdauer sind die Gesprächsthemen beim Dinner. "Der Krieg des Menschen gegen das Altern kann nicht gewonnen werden," sagt U.G. und bringt damit eine lange Unterhaltung zum Abschluß.

"Die Kunst ist aus Frustration entstanden. Alles entsteht aus der Frustration heraus." Ich beginne den Jetlag zu verspüren.
 

12. Juli ... DRITTER TAG

Unten im Tal findet ein Tennisturnier statt. Dieser Ort ist voller Menschen. Aus der ganzen Welt sind sie gekommen, um dieses Tennismatch zu sehen. In Gstaad gibt es keine Zimmer mehr. Yehudi Menuhin gibt eine Serie von Konzerten in der Saaner Kirche.

Morgens, nachdem ich mir eine zweite Tasse Kaffee eingegossen habe, erzählt U.G. eine komische Begebenheit aus seiner Kindheit, die sich auf einem Bahnsteig zugetragen hatte. Die Begebenheit: U.G. stieg aus einem bequemen Eisenbahnabteil Erster Klasse auf den Bahnsteig von Madras, als er seinen Großvater traf, der gerade aus einem vollen Dritter-Klasse-Abteil desselben Zuges kam. Der Anblick seines Enkels, der einem Erster-Klasse-Abteil entstieg, machte den alten Mann wütend. "Wie kannst Du das nur tun?" sagte er. "Ich arbeite Tag und Nacht, nur damit Du es in der Zukunft einmal gut haben sollst, und Du gehst hin und verschleuderst alles." Raten Sie, was U.G. antwortete. Er sagte: "Warum auf die Zukunft warten? Jetzt hast Du selbst gesehen, wie angenehm ich schon jetzt mit Deinem  mühsam erarbeiteten Geld lebe. Ist es das nicht, was Du wolltest?"

Als ich in Saanen auf ein Hotel zugehe, treffe ich Ajay Devgan, der hier in der Schweiz einen Film dreht. Außerdem begegnet mir ein junges hübsches Mädchen, das ich zunächst nicht erkenne. Es ist Twinkle, Dimples Tochter. Sie ist in Eile und will in Gstaad schnell noch ein paar Einkäufe machen. Das Filmproduktionsteam, zu dem sie gehört, kehrt am diesem Abend nach Indien zurück. Mein Treffen mit Ajay verläuft gut. Ich mag ihn gerne; er hat einen besonderen Charme. Auf dem Rückweg treffe ich zufällig Saroj Khan, die berühmte Choreographin aus Bollywood. Wie immer, so beschwert sie sich auch diesmal über ihren Sohn Raju, der mein liebster Choreograph ist. "Warum arbeiten Sie nur mit meinem Sohn zusammen? Warum nicht mit mir? Bin ich denn nicht gut? Geben Sie mir wenigstens ein paar Filme," sagt sie. Hier ist die wahre Geschichte einer Mutter, die ihrem Sohn ein paar Happen wegschnappen will. So ist das eben im Showbusiness.

Ich lese das Drehbuch von "Tender Mercies", dem Film, für den Robert Duvall seinen ersten Academy Award bekam. Der Film hat auch einen Preis für das beste Drehbuch erhalten. Ein Satz darin gefällt mir besonders: "Ich mißtraue dem Glück." Der lebensbejahende Höhepunkt dieses Films ist, obwohl nach den Maßstäben der populären indischen Filme ziemlich einfach gehalten, doch recht effektiv. Manchmal ist weniger mehr.
 

13. Juli ... VIERTER TAG

"Eine Blume predigt nicht," hatte U.G. früh an diesem Morgen gesagt.

"Ihre Rekha-Geschichte über die alternde Schauspielerin wird sicherlich funktionieren. Ihre Geschichte spiegelt das wider, was jeder will. Man wird sich wegen dieser Rolle an sie erinnern. Aber sie darf keine große Affaire daraus machen, wenn sie dem Showbusiness den Rücken zukehrt. Sie muß mit Anmut Abschied nehmen und weggehen."

Ideen für 'Alternde Schauspielerin':

In der letzten Szene muß der Star auf den Helden zugehen und ihm dafür danken, daß er ihr den Spiegel gezeigt hat. Als Höhepunkt muß sie ohne ihr Make-up, das ihr Harnisch war, in die Welt hinausgehen. Während die Morgendämmerung ihr Gesicht enthüllt, muß das Publikum ihre alterslose Schönheit entdecken. Wir sollten das letzte Bild in einem extremen Closeup einfrieren, während die Stimme des Helden sagt: "Du bist schön..."

Zur Abendessenszeit, nachdem sich der Rest der Gesellschaft verabschiedet hat, sprechen Gottfried, Bodil, Marisa und ich über U.G. und den Tod. Die Unterhaltung läuft bald auf das Thema des Alterns hinaus. Marisa erwähnt ihre Freundin, die es eines Tages aufgab, sich zurechtzumachen und in den Schönheitssalon ging, um dort ihren Freundinnen, die sich mit ihrem Make-up plagten, zu verkünden: "Hallo, ihr Lieben, wie gefällt Euch mein neues Gesicht?" Ich glaube, das wird eine interessante Szene geben.
 

Bodil, der schwedische Maler, schlägt vor, daß die Hauptdarstellerin im Film nacheinander alle Makeuputensilien fallen lassen und in den Sonnenuntergang hinausgehen muß.

Mir gefällt der Mut und der Humor Marisas. Ich muß jemanden wie sie in meinem Film darstellen. Sie wird einen guten Gegenpol zum Charakter der Hauptdarstellerin abgeben.

Gottfried weist darauf hin, daß es hier im Westen nicht nur die Lebenden sind, die sich zurechtmachen, sondern auch die Toten werden noch geschminkt. Diese Besessenheit mit dem jugendlichen Aussehen hat absurde Ausmaße angenommen. Marisa sagt, es sei doch absurd, daß es als normal gelte, wenn man sich nach dem Tode einfrieren ließe, in der Hoffnung, daß die Krankheit, an der man gestorben ist, eines Tages geheilt werden könne und man wiederauferstehen wird, während man wie ein Krimineller behandelt wird, wenn man sich von den lebenserhaltenden Maschinen abkoppelt und sein eigenes Leben beendet, um den Schmerzen zu entgehen.

Heute ist Vollmond. Blitz und Donner füllen den Raum mit dramatischen Licht- und Toneffekten. U.G. schläft. Bevor er sich in sein Zimmer zurückzog, sagte er: "Ich sehe Euch morgen, falls ich dann noch am Leben bin." Während die Nacht voranschreitet und alle Gäste gegangen sind, entdecke ich, daß es hier viel zu ruhig ist, als daß ich mich wohlfühlen könnte.
 

14. Juli ... FÜNFTER TAG

U.G. schlägt vor, daß die Schauspielerin die Schönheit entdecken sollte, die in den Gesichtern derer ist, die da draußen auf den Straßen und in den Slums Indiens leben. Die Welt hat nie erfahren, daß die letzte Szene meines Films 'Arth', in der die Heldin ihrem Mann und ihrem Liebhaber den Rücken kehrt und alleine fortgeht, eigentlich von U.G. stammt, der auf diesem Ende bestand. Er tat dies ungeachtet des heftigen Protestes der Filmexperten, die vorhersagten, daß solch eine Ende den Film um seinen Kassenerfolg bringen würde. Nun, was geschah, ist bekannt. Der Film lief nur wegen dieses Schlusses gut.

"Die Kosmetikindustrie, die Schönheitssalons, die Modeschöpfer, die Kleiderfabrikanten und die Modemagazine - sie alle werden sich gegen Sie erheben, wenn Sie sie in Ihrem Film als die Bösewichte darstellen," sagt U.G. Ich fange an zu verstehen, was er mir damit sagen will. Wenn man den Kampf aufgibt, ewig jung zu sein und sich nicht mehr der Hilfe all dieser Menschen bedient, die in dieser Branche tätig sind, welche Macht sollten sie dann noch über einen haben? Sie wären nicht mehr im Geschäft.

Spät am Abend, als U.G. seine übliche Ansprache gibt, kommt ein ausgezehrter, hagerer Mann herein. Es ist Scotty-Scott, mein Freund aus Ojaj. Ich treffe ihn seit Jahren zum erstenmal. Er sieht traurig aus. Nachdem Scott weggegangen ist, setze ich mich zu U.G. und frage ihn, was er glaubt, daß mit Scott nicht stimme. Warum sah er so krank aus? "Diese Amerikaner sind paranoide Menschen. Dieser Bursche hat damit aufgehört, Salz in seinem Essen zu sich zu nehmen und leidet angeblich am Chronischen-Erschöpfungs-Syndrom. Salz ist für den menschlichen Körper sehr wichtig. Diese Ärzte und Diätsachverständigen nehmen Sie doch nur auf den Arm. Eines Tages sagen sie, Cholesterin sei schlecht für den Körper, und ein paar Jahre später ändern sie ihre Meinung und sagen, Cholesterin sei für den Körper lebensnotwendig. Sie sehen mich doch jeden Morgen, nicht wahr? Wieviel Sahne gieße ich in meinen Kaffee? Ich bin siebenundsiebzig Jahre alt. Was stimmt nicht mit mir? All die Doktoren, die gesagt haben, ich sollte keine Sahne anrühren, sind tot und vergangen. Ich bin immer noch hier, frisch und munter!"

Ich spüre in diesem Sommer an U.G. etwas Merkwürdiges. Er reißt jede Zitadelle unserer Kultur nieder, gleichgültig wie erhaben sie auch sein mag.

Spät am Abend erzählt U.G. von den drei Mädchen, die er in Tokio getroffen hat. Eine war Rajneesh-Anhängerin, die zweite eine Anhängerin J. Krishnamurtis und die dritte eine von Bubba Free John. "Diese Mädchen verlangen sechshundert Dollar für eine Nacht. Als ich fragte, wie es käme, daß sie so viel verdienten, erklärten sie, daß sie vor und nach dem Sex mit ihren Freiern über Religion, die Gottheit und Mystizismus sprächen. Deshalb waren sie so teuer." "Sex in Kombination mit der Religion ergibt immer einen Kassenschlager," sagt der große amerikanische Regisseur Cecil B. DeMille.
 

15. Juli ... SECHSTER TAG

"Die Sorge ist das, was alles zusammenhält. Kunst, Religion und dieser politische Eifer, das Leben der menschlichen Gesellschaft zu verbessern, rühren von der Frustration und der Unmöglichkeit her, dem Leben irgendeinen Sinn abzugewinnen," sagt U.G. Heute morgen mit ihm zu sprechen, ist, als würde man an einem klaren Tag in einen klaren Himmel hinein abheben. Die weite Ausdehnung des Himmels ist heute weniger bedrohlich.

Ich frage Gottfried Meyer, den emeritierten deutschen Professor, der früher Malerei, Radierkunst und Bildhauerei an einer Universität in Süddeutschland gelehrt hat: wenn er seine gesamte Lehre über die Malerei und die Bildhauerei zu einem Wort zusammenfassen müßte, welche würde das sein? Gottfried antwortet ohne zu zögern: "Beobachten... Das Leben beobachten.... Die Natur beobachten..." In diesem Augenblick mischt sich U.G. ein: "Sie beobachten nur durch einen Schleier von Vorstellungen hindurch, die durch Ihre Kultur in Sie hineingelegt worden sind. Ein wirklicher Künstler weiß, daß das, was man da draußen sieht, den wertvollen künstlerischen Ideen, auf die Sie stolz sind, nicht entspricht, daß es nicht zu ihnen paßt. Aber ich weiß, daß Sie nicht auf das hören werden, was ich sage. Sie werden nur dann zufrieden sein, wenn Sie das hören, was Sie hören wollen," sagte U.G., schaute in eine andere Richtung und überließ uns unserer Diskussion.

Am frühen Abend kommt Scott und nimmt mich mit ins Tal hinunter. Er bestellt sich eine Tasse Kaffee, und ich nehme einen Darjeeling Tee. Er öffnet mir sein Herz. Er erzählt mir von der Affaire, die seine Frau mit einem jüngeren Mann hat. Er erzählt, wie es ihn acht lange Jahre lang gequält hat, daß sie mit diesem Mann schläft. Aber jetzt, sagt er, sei es ihm gelungen, über diesen Schmerz hinwegzukommen. Er sagt, er sei der einzige unter einer Milliarde Männer, der seiner Frau erlauben würde, das zu tun, ohne ihr das Leben schwerzumachen. Er spricht ausführlich über die Vereinbarungen, die diese 'Ménage à trois' eingegangen ist, und diskutiert ebenso ausführlich darüber, wie erotisch das Ganze sei. Während ich ihm zuhöre, denke ich an die Flammen der Eifersucht, die mich voll und ganz verschlingen wollen, wenn ein Mann meiner Frau zu nahe kommt. Gott, was für eine unappetitliche Angelegenheit unsere Beziehungen doch sind.

Am Abend spricht U.G. über eine andere 'Ménage à trois' - J. Krishnamurti, Rosalind Rajagopal und Rajagopal. "... Rajagopal ließ es sich gefallen, daß J. K. eine Affaire mit seiner Frau hatte und schaute weg, denn es ging dabei auch um viel Geld und Grundbesitz. Er war ein willfähriger Teilnehmer an diesem unerquicklichen Drama. Sprechen Sie diese Leute nicht frei. Sie mögen von sich behaupten, sie seien anders als wir gewöhnlichen Sterblichen, aber das sind sie nicht; sie sind genau wie wir, wenn nicht schlimmer..."
 

16. Juli ... Siebter Tag

"So etwas wie Teilhabereigentumsrechte gibt es auf dem Gebiet der menschlichen Beziehungen nicht," sagt U.G., als er Bilanz aus der Dreiecksgeschichte zieht, die Scotts Privatleben zerstört. Das ist die wirkliche Ursache seiner Krankheit. "Würde seine Frau auf ein ähnliches Arrangement eingehen und ihn mit einer anderen Frau teilen? Wenn nicht, warum sollte er sie dann mit einem anderen Mann teilen? Und warum läßt Scott sich das gefallen und erträgt das Unbehagen und den Schmerz, den sie ihm dadurch zufügt, daß sie mit einem anderen Mann schläft?" "Warum?" frage ich. "Möchten Sie, daß ich Ihnen die unbequeme Wahrheit sage? Er tut es unbewußt wegen seiner nachlassenden Gesundheit und auch wegen der finanziellen Unterstützung, die er von ihr erhält." Das ergab einen Sinn, aber dann frage ich ihn: "Warum aber sollte seine Frau denn an ihm festhalten, wenn sie doch einen Freund hat?" Sagt er: "Sie hält an ihm fest, weil sie fühlt, daß ihr Freund sie eines Tages fallenlassen wird."

"Stirb Bankrott - Vergiß das Erbe - Mach' im Diesseits das meiste aus deinem Geld!" - schreit die Titelseite eines amerikanischen Magazins namens "Worth". Es ist eine Zeitung mit finanziellen Informationen. Der Artikel behauptet, daß, je begieriger die Menschen darauf aus seien, ihren Nachkommen ein Vermögen zu hinterlassen, sie wahrscheinlich um so mehr eine Art von Todesqualität der Lebensqualität vorziehen würden.

Im weiteren Verlauf des Tages werde ich von U.G. übel zugerichtet: "... Wissen Sie, warum Sie wollen, daß ich Ihren Kindern weiterhin dieses Geld geben soll, wenn Sie einmal nicht mehr sind? Das heißt, daß Sie nicht einmal dann von Ihrem Geld lassen wollen, wenn Sie einmal tot sind. Sie wollen durch Ihre Kinder weiterleben, nachdem Sie gestorben sind. Sie sagen, daß Sie nicht an Reinkarnation glauben, daß Sie nicht an ein Leben nach dem Tode glauben, daß Sie keine Fußspuren hinterlassen wollen. Das ist alles Schwindel. Sie wollen die Fortdauer, genau wie jeder andere auch. Nur dafür interessieren Sie sich. Sie wollen durch Ihre Werke, Ihre Schriften, Ihre Bücher, Ihre Filme und Ihre sogenannten humanitären Taten weiterleben."

Heute ist der siebte Tag, und es ist ein schlechter Tag. U.G.s Reden machen mir allmählich zu schaffen. Es wird schwierig, sich zu verstecken. Ich mache einen langen Spaziergang in Richtung auf den Bahnhof. Ich beneide all diese Menschen, die sich ihrer Unehrlichkeit nicht bewußt sind. "Haltet die Welt an," sage ich zu mir selbst. "Ich will aussteigen." Wenn man mit U.G. zusammen ist, dann weiß man weder, welche Welle einen treffen wird, noch aus welcher Richtung sie kommen wird. Ich fühle mich wie ein Blatt, das von einem Sturm durch die Luft gewirbelt wird.

Das Swiss Open Tennismatch wird unten im Tal ausgetragen. Der Beifall der Menge, die dem Sieger applaudiert, genügt, um mich in meine Schulzeit zurückzuversetzen. Er erinnert mich an meine Cricket Matches. Vielleicht läßt mich das Abendlicht nostalgisch werden.

Stille umfängt das Tal. Als der Abend voranschreitet, vertiefe ich mich in meine Zeitung. Das ist wie ein Bunker, und ich fühle mich sicher. Aber ich irre mich. U.G. wendet sich mir zu und greift mich plötzlich an. Er wütet über sein Lieblingsthema, 'Geld'. Ich zittere und bebe, während er mich in aller Öffentlichkeit auseinandernimmt. Ich frage mich, worauf er hinaus will, und ich verstehe ihn nicht. Nachdem eine sehr lange Zeit vorüber ist, habe ich das Gefühl, daß ich gleich zusammenbrechen und zu weinen anfangen werde. Warum lasse ich mir das alles nur gefallen? Was suche ich denn am Ende der Straße? Warum bin ich hier? Wer ist dieser Mann? Was will ich von ihm? Nichts ergibt einen Sinn, gar nichts.

17. Juli ... Achter Tag

Bin heute schon ein wenig vor sechs aufgewacht. Ein unbehagliches Gefühl von Schrecken hängt über mir. Das lauteste Geräusch im Zimmer ist das Ticken der Wanduhr. Dort, hinter dem Vorhang, beginnt ein neuer Tag hereinzulugen. Um mich ist alles ungewöhnlich still. Mit U.G. zu leben ist, als würde man mit dem Wind leben. Die ganze Nacht hindurch, bis zu diesem Moment, hatte ich das Gefühl, daß in dem Raum neben mir niemand lebt.

Eine heiße Dusche in einer warmen Badewanne ist ein tolles Erlebnis. Jetzt, nachdem man alles ein bißchen langsamer angehen muß, ist es einem möglich, diese einfachen Tatsachen des Lebens zu bemerken und sich an ihnen zu erfreuen. U.G. sagte einmal: "Ein Bad zu nehmen ist eine sinnliche Beschäftigung. Der religiöse Mensch macht aus der Bedeutung eines Bades eine große Affaire. Er verkehrt die einfache Handlung, warmes Wasser über seinen Körper zu gießen, in ein Ritual. Sehen Sie nicht, wie all die Menschen in Ihrer Werbung ständig das Vergnügen eines schönen Bades würdigen und zur Schau machen?" Ich muß an meine Mutter denken. Bilder aus der Kindheit tauchen auf, wie sie sich stundenlang in das kleine Badezimmer unserer winzigen Mittelklassse-Wohnung in Shivaji Park in Bombay einschloß. Ein Bad zu nehmen, war die einzige Gnadenfrist, die meiner Mutter von der Hölle, in der sie lebte, gewährt wurde.

"Guten Morgen," sagt U.G., und geht in die Küche. Er ist heute spät dran. Es ist jetzt fast sieben Uhr. Für gewöhnlich macht er sich sein Frühstück und meinen Kaffee um Viertel nach sechs. Die Geräusche von Tassen und Löffeln, dem Öffnen und Schließen der Schranktüren, vermischen sich mit dem Pfeifen des Wasserkessels. In mir sagt eine Stimme: "Bist du bereit zum 'Take'? (Drehen einer Szene im Film, Anm. d. Ü.) Bist du bereit, das Lied des Scharfrichters zu hören?" "Ja, ich bin bereit," sage ich zu mir, "heute werde ich mich hinstellen und erschossen werden." Als die Uhr schlägt, zerfleischt U.G. J. Krishnamurti. Innerhalb von Sekunden macht er ihn nieder und steckt ihn in die Philosophenecke. Ohne zu zögern beginnt er dann Bertrand Russell zu loben. "Ich habe nichts gegen Bertrand Russell und daß er unzählige Affairen hatte oder mit der Frau seines besten Freundes schlief. Er hat sich keiner Vorwände bedient. Aber was J.K. tat, war abscheulich. Warum hat er auf dem Podium eine moralische Haltung gegen Sex eingenommen? Warum mußte er den kleinen Jungen, die er in der Vereinigten Staaten traf, sagen: 'Warum wollen Sie Sex haben, Sirs? Warum genügt es Ihnen nicht, die Hand des Mädchens zu halten?' Wahrscheinlich litt dieser Heuchler an vorzeitigem Samenerguß."

Notizen:

"Das Problem ist, daß Sie Ihren Schatten überholen wollen. Der Baum versucht nicht, seinen Schatten zu überholen, oder? Solange Sie in der Sonne stehen, wird es einen Schatten geben. Die einzige Möglichkeit, wie Sie Ihren Schatten loswerden können, besteht darin, sich selbst loszuwerden. Das Elend verschwindet, wenn das 'Ich ' geht. Solange Sie da sind, wird auch das Elend da sein."
 

"Ich peinige dich, damit meine Pein von mir weichen möge," sagt Bob, als er eine Szene aus einem Film von 1936, genannt 'Der Rabe', nachspielt. Dieses Zitat sagt alles.

Später am Tag gehen Scott und ich nach Gstaad, um unseren täglichen Kaffee und Tee zu uns zu nehmen. Ich gebe ihm das neueste Buch von William Styron, 'A Tidewater Morning'. Styron ist ein großartiger Schriftsteller; mir gefällt, was er schreibt. Heute sehen die Straßen Gstaads verlassen aus. Das Swiss Open Tennismatch ist vorbei. Scott erwähnt, er habe am Morgen in diesem Restaurant einen amerikanischen Schauspieler gesehen. "Welchen amerikanischen Schauspieler?" frage ich. Scott gibt sich alle Mühe, aber der Name will ihm nicht einfallen. Er sieht kläglich aus. "Gott, das tut das chronische Müdigkeitsyndrom dem Gehirn an. Der Name ist hier in meinem Kopf, aber ich kann ihn nicht herausbringen," sagt Scott, und gibt auf.

Die Nacht ist wie üblich.

18. Juli ... Neunter Tag

"Sie verlassen sich auf den falschen Mann. Ich verfüge über keine psychischen oder spirituellen Kräfte. Die kritische Phase in Ihrem Leben dauert schon zu lange an... Auf Wiedersehen," sagt U.G., legt den Hörer auf und geht in die Küche, um sich den frühmorgendlichen Pflichten zuzuwenden, die darin bestehen, sein Frühstück und meinen Kaffee zuzubereiten. Im dunklen Wohnzimmer zeigt die Uhr auf zwanzig Minuten nach sechs. Der neunte Tag meines Aufenthaltes in der Schweiz hat begonnen. In mir ist es ungewöhnlich still. "Das war ein Doktorand aus Kanada, Dr. Ragunath. Er ist mit seiner Dissertation über Aurobindo fertig. Ich habe ihm einmal geholfen, nicht nach Indien gehen zu müssen. Jetzt aber will er dahin zurück. Er wollte wissen, was für eine Zukunft ihn dort erwartet," sagt U.G. und beantwortet so meine unausgesprochene Frage.

"Warum verändert die Religion die Menschen nicht? Immer dasselbe zu tun, kann die Dinge nur auf den Gebieten der Arbeit oder der Wirtschaft zum Besseren verändern, nicht hingegen in der sogenannten moralischen Welt."

Auf meinem Tisch sitzt eine Fliege. Sie sucht offenbar nach Nahrung. Ich bemerke, daß sie immer dann wegfliegt, wenn ich eine verdächtige Bewegung mache. Dann, nachdem sie die Lage eingeschätzt hat, fliegt sie zurück und nimmt ihre abgebrochene Tätigkeit wieder auf. "Das ist Instinkt. Ihr sogenannter beschützender Instinkt ist nicht natürlich. Sehen Sie denn nicht, daß er Sie mit seinem ständigen Verlangen nach Fortdauer kaputtmacht? Ihr Denkmechanismus, den es nach Fortdauer verlangt, ist ein totes Ding. Er kann an nichts Lebendiges rühren... Die Frustration zeitigt Ergebnisse. Ihre ganze Welt der Kunst gründet sich auf Frustration. Sie kennen das uralte Beispiel von dem Hund und seinem Knochen. Der hungrige Hund zerbeißt einen mageren trockenen Knochen; dabei verletzt er sein Zahnfleisch, und es blutet. Der arme Hund stellt sich vor, daß das Blut, das er schmeckt, von dem Knochen käme, und nicht von ihm selbst... Was immer Sie erleben, haben Sie erschaffen; und diese Erfahrungen, wie intensiv und großartig sie auch sein mögen, haben keine Dauer."

Die Fliege auf meinem Tisch hat mich mehr über Instinkte gelehrt, als all die Bücher, die ich gelesen habe. "Aber," sagt U.G., "es wäre absurd zu versuchen, jeden Tag einer Fliege zuzusehen und zu versuchen, diese Erfahrung zu wiederholen..."

Aber wie kann ich denn meine wertvollen Erfahrungen wegwerfen, hinein in den Strudel der Zeit? Ist nicht auch der Akt des Schreibens ein Versuch, den lebendigen Augenblick in einen Käfig zu sperren? Ein paar dieser Momente zu einer Art Muster zusammenzubinden, scheint eine gute Sache zu sein. Aber welchem Zweck soll das alles dienen?

"Wenn Sie alte Klischees und traditionelles Zeug in etwas stecken, das zeitgenössisch und neu ist, dann stirbt es," sagt Professor Moorty. Seine Worte lehren mich, was ich nicht mit dem Skript machen darf, an dem ich arbeite.

"Wissen Sie, wer dieser Schauspieler war, Mahesh?", fragte Scott und lehnte sein Mountainbike an die Wand. "George C. Scott! Gott, und mir fiel sein Nachname gestern nicht ein. Ich glaube, ich gehe heute auf einen der schneebedeckten Berge und schreibe ein paar Gedichte.... Bis später."

Heute ist Marios einunddreißigster Geburtstag. "Was ist der Sinn des Lebens?" fragt er scherzhaft, als wir in sein Auto steigen, um ins Palace Hotel nach Montreux zum Mittagessen zu fahren. "Töten und getötet zu werden, und das auf zehn verschiedene Arten zu rechtfertigen, das ist der Sinn und Zweck Ihres Lebens," mischt sich U.G. ein und setzt sich auf den Vordersitz.

19. Juli ... Zehnter Tag

Das Bett zu machen, in dem man geschlafen hat, ist eine schwierige Arbeit. Es ist schwieriger als Schreiben.

Jemand hat seit gestern Abend versucht, mich zu erreichen. Das Telephon hat ständig geklingelt, hört aber damit auf, bevor ich es erreiche.

"'Frisch' gibt es nicht für mich. Die Idee von frischem Gemüse oder frischer Creme ist Schwindel. Man verkauft gefrorenes Gemüse und Früchte, klebt ihnen das Etikett 'frisch' auf und hält die Leute zum Narren. Der Mensch will betrogen werden! Deshalb sage ich, wer an die Jungfrau Maria glaubt, der wird alles glauben. Ihre Obsession mit der 'Frische' kommt von der Angst, das, was Sie die 'gute Gesundheit' nennen, zu verlieren. Der Vater der Makrobiotik starb am Eßtisch, während er seinen Zuhörern eine Rede über die immerwährende gute Gesundheit hielt, die mit seiner Diät erzielt werden könne. Es ist ein offenes Geheimnis, daß die Mutter der globalen Aerobic-Marotte, Jane Fonda, im geheimen eine Bypass-Operation am Herzen hatte. J. Krishnamurti nahm jeden Tag ein Ölbad, um seinen Körper geschmeidig und fit zu halten. Und wissen Sie, das Öl dafür wurde extra aus Kerala geschickt. Trotzdem ist er eines elenden Todes gestorben. Man ißt, um das Leben zu verlängern; man fastet auch, um das Leben zu verlängern. Kurz gesagt, alles, woran Sie interessiert sind, ist, das Leben zu verlängern. Das ist Ihre Agonie. Der Körper ist an diesem Unsterblichkeitsspiel nicht interessiert. Gesundheit selbst ist eine Begrenztheit."

"Yoga und all die Übungen, die Sie betreiben, kehren den Energiefluß um. Die einzige Körperübung der Tiere besteht darin, herumzurennen, um Nahrung zu finden oder der Gefahr zu entfliehen. Unsere ganze Existenz dreht sich darum, zu kaufen und zu verkaufen, und hierin sind unserer spirituellen Vorstellungen inbegriffen... Jemandem immerwährenden Ruhm zu verleihen, bedeutet, ihn unsterblich werden zu lassen. 'Immortalität' heißt Unsterblichkeit; und 'Seele' bedeutet eine Entität, die ohne Ende und immerwährend ist," sagt U.G., während er aus dem Lexikon vorliest.

Ich sage zu ihm: "Mit Ihnen zu sprechen ist, als hielte man einen Dialog mit dem Tod." U.G. antwortet: "Wie könnten Sie einen Dialog mit dem Tod führen? Das 'Du' muß verschwinden, bevor der Tod eintritt. Sie reden immer nur endlos über den Tod und darüber, all seinen Gestern gegenüber zu sterben."

Wie lautet Ihre Botschaft, U.G.? frage ich gereizt.

"Fallen Sie tot um!" sagt er und schaut mir gerade ins Gesicht.

"Sie können den Tod von niemandem erleben, auch nicht den Tod von geliebten Menschen oder Nahestehenden. Was Sie erleben, ist die Leere, die durch den Tod von jemandem, der Ihnen nahesteht, entsteht.

Abschied nehmen tut weh. Ich glaube, beim Sterben schmerzt es deshalb so viel mehr, weil es endgültig ist. Ich fülle die Leere, die in mir entstanden ist, dadurch aus, indem ich mit meinen Kindern in Indien telephoniere. "Weißt du, daß Sasheen jede Nacht im Bett dein Hemd trägt?" sagt Soni, "Sie sagt, sie liebt deinen Geruch. Sie vermißt dich sehr."

20. Juli ... ELFTER TAG

Sanjay Dutt und ich gehen zusammen Hand in Hand durch die Straßen Bombays, auf denen es von Menschen wimmelt. Aber niemand scheint Notiz von uns zu nehmen. Warum? "Weil du träumst," sagt eine Stimme in meinem Kopf. Ich wache auf. Es ist noch ziemlich früh. Ich habe vergessen, die Vorhänge zuzuziehen, bevor ich schlafen gegangen bin. Im Zimmer ist es hell. Ich öffne ein Tagebuch, das U.G. mir geschenkt hat und kreuze den 20. Juli an. Heute ist mein elfter Tag im 'Paradies'. Huh...

Gestern Abend hat es geregnet. Der Geruch des nassen Grases erinnert mich an den Shivaji Park in Bombay. Ist man denn mehr als ein Bündel von Geräuschen, Gerüchen, Anblicken und Geschmäcken? U.G. ist aufgestanden. Er tritt barfuß in das Morgenlicht hinaus, geht auf die Wäscheleine zu, um dort drei frischgewaschene Wäschestücke aufzuhängen. "Ich gehe zum Meister, nicht weil ich ihn sprechen hören möchte, sondern, um ihm zuzusehen, wie er sich die Schnürsenkel bindet," sagt ein Zen-Schüler. Heute werde ich genau das tun, was der Mönch gesagt hat.

Die einfache Handlung, seine Wäsche aufzuhängen, ist für U.G. das All-Sein und All-Ende seiner Existenz. Er ist vollkommen bei der Sache. Sein Gesicht zeigt einen Ausdruck des Staunens, während er seine Weste mit Klammern an die Leine hängt und dabei die kleinsten Falten glattstreicht. Von einem Augenblick zum nächsten zu leben, ist für diesen Mann ein physikalisches Faktum und keine von außen aufgesetzte philosophische Konzeption.

U.G zieht die Vorhänge zurück und läßt den Morgen in das Wohnzimmer. Dann schlüpft er anmutig zwischen Sofa und Schrank, streicht die Decke über seinem Stuhl glatt und rückt das Kissen zurecht. Es ist so leicht für ihn, Ordnung zu schaffen. Jetzt sucht er nach etwas, das er nicht finden kann. Seine Augen überblicken prüfend das Zimmer. "Neben dem Telephon war ein Bleistift," sagt er. Ich erkenne plötzlich: Ich, der ich das Telephon am meisten benutze, habe auch bemerkt, daß der Bleistift fehlt, aber ich habe nichts deswegen unternommen. Dagegen ist hier jemand, der das Telephon selten benutzt und der keine Verwendung für den Bleistift hat, der aber etwas tut. "Sicherlich hat Julie ihn weggenommen," sagt er mit Bestimmtheit. Nachdem er in einer Ecke einen neuen Stift gefunden hat, macht er es sich im Wohnzimmer bequem. Jetzt ist alles still. Das Ende seiner Bewegung ist wie das Ende einer musikalischen Phrase.

Eine überwältigende Stille senkt sich auf den Raum. "Solange es das Erkennen gibt, solange gibt es keine Stille. Diese Stille bist du. Das ist Mahesh. Der Lärm des vorbeifahrenden Zuges, den du hörst, bringt dich zum Schweigen, läßt dich zu einem Ende kommen. Das kannst du nicht hinnehmen, also läufst du weg. Genau so, wie du nicht lange in die Sonne schauen kannst, ohne zu erblinden, kannst du auch nicht auf die Geräusche um dich herum achten."

Bob und Paul, die amerikanischen Freunde aus Kalifornien, kommen und sprechen über ihren Freund Connie. Connie war ein Sucher, der, nachdem er mit dem spirituellen Bazar fertig war, zu trinken begann. Connie wird in Thailand vermißt. Bob erzählt, daß die amerikanische Botschaft in Bern versucht habe, sie zu kontaktieren. Sie spüren kommendes Ungemach. "Er ist wahrscheinlich tot," sagt Bob, und sieht absolut beherrscht aus.

"Menschliche Schwachheiten und Eigenheiten werden von mir nicht akzeptiert. Für die Geistlichen sind sie gut, denn sie werden zu ihrer Einnahmequelle. Sehen Sie nicht, daß diese Gurus, Psychiater und Therapeuten von Ihren Schwachheiten und Eigenheiten leben?" erklärt U.G.

Der Film heute Abend ist 'Ed Wood'. Es ist eine Schwarz-Weiß-Komödie, die auf dem Leben eines Filmregisseurs basiert, der am Ende seines Lebens eine Auszeichnung als schlechtester Regisseur der Welt erhielt. Ich liebte diesen Film. Die Beziehung zwischen einem ehemaligen Schauspieler und einem gescheiterten jungen Regisseur war herzzerreißend. Später, nach dem Film, sah ich zu , wie Julie und Moorty mit dem Internet und dem Word Wide Web spielen. U.G. ist jetzt für die vierzig bis siebzig Millionen Menschen auf der Welt 'verfügbar', die Zugang zum Internet haben. "Schauen Sie nur, U.G., was die Technologie alles kann," sage ich fasziniert. "Vergessen Sie aber nicht, daß dieselbe Technologie dazu verwendet wird, zu töten und Leben zu zerstören," sagt U.G. und sieht aus, als wäre er nicht beeindruckt.
 

21. Juli ... ZWÖLFTER TAG

Im Filmgeschäft wird man zuerst zermalmt und dann ausgespuckt. Um im Showbusiness zu überleben, muß man Mut haben und die Fähigkeit, wieder aufzuerstehen und sich ständig neu zu erfinden. Der Charakter, den man besitzt, wird dadurch bestimmt, wie man auf eine Situation reagiert. Man ist, was man tut, und nicht, was man zu tun vorhat. "Sie denken, wenn Sie nichts tun wollen. Denken ist eine armselige Alternative für das Handeln. Ihr Denken verbraucht all Ihre Energie. Handeln Sie, und denken Sie nicht!" sagt U.G. und richtet sein Feuer in meine Richtung. Wenn U.G. auf einen losgeht, dann macht er keine Pause, nicht einmal für eine Minute. Er sagt: "Ich bin wie ein Tier. Entweder kämpfe ich solange, bis ich getötet habe, oder ich renne einfach davon."

Ich bin ein Workaholic. Ich leide unter Arbeitsentzug. Ich bin wie ein Junkie, der seine Droge braucht. Probleme und Spannungen sorgen dafür, daß ich mich lebendig fühle. Probleme konkretisieren mich, definieren mich. Sie haben recht, U.G. Wir lieben die Probleme. "Sie müssen für Ihre Bindungen bezahlen. Sie können nicht beides haben," sagt U.G. zu Mario. Sie sprechen über seine Probleme mit seinem Haus und seiner Frau. "Die harten Tatsachen sind der größte Lehrmeister. Sie werden Sie zum Handeln anspornen." Ich unterbreche ihn und sage: "U.G., jedesmal, wenn Sie eine Tatsachenbehauptung aufstellen, ziehe ich mich von Ihnen zurück. Warum wohl?" Er lächelt und sagt, indem er mir genau in die Augen sieht: "Sie ziehen sich nicht nur von mir zurück, sondern von der harten Wirklichkeit der Welt. Warum hat Julie den Stierkampf im Fernsehen gestern Abend verurteilt? Sie sagte, sie könne das nicht ertragen, warum aber ist sie dann sitzengeblieben und hat ihn sich angesehen? Daß der Stier gequält wurde, konnte sie nicht akzeptieren, aber was ist, wenn die amerikanische Regierung, die sie unterstützt, im Namen der Freiheit viele Tausende unschuldiger Menschen tötet?"

Am Abend erzählt U.G. von einem bezeichnenden Vorfall: Eine Frau ging einmal zu J. Krishnamurti und schwärmte über eine kreative Erfahrung, die sie am Abend zuvor gemacht hatte, während sie der Musik von Yehudi Menuhin zuhörte. Krishnamurti sagte: "Madam, was ist daran so kreativ, wenn Pferdehaar sich an Katzendärmen reibt?" Während meines Aufenthaltes hier in Gstaad erzählte mir ein 'Insider', der zu Krishnamurtis Gefolgschaft gehörte, daß Krishnamurti selbst die Musik liebte. Er hörte sich oft Beethovens  Neunte an.

Spät am Abend sitzen Bob, Paul, Narayana Moorty und ich mit U.G. unter dem sternenklaren Himmel. Plötzlich prügelt U.G. auf mich ein: "Mahesh, selbst Sie verstehen kein Wort von dem, was ich sage. Glauben Sie nur nicht, Sie seien etwas Besseres als all diese Burschen, auf die Sie meinen herabsehen zu können...." Das klingt, als sei es ein Kampf Mann gegen Mann. Ich kämpfe, ihm Paroli zu bieten. Es gelingt mir nicht. Nach der Attacke fühle ich mich leer, aber ruhig. Ich sehe zum Himmel empor und finde, daß die Sterne aus irgendeinem Grund heller leuchten. Es fühlt sich an, als wäre ein Schleier in mir weggezogen worden.

In der Nacht werfe ich mich im Bett hin und her und warte auf den Schlaf.

22. Juli ... DREIZEHNTER TAG

Ist dieses Ding, das 'Ich' genannt wird, nicht nur eine in Ehren gehaltene Wunde aus der Vergangenheit?

Ich bin heute morgen früh aufgewacht, noch taumelnd vom Schock der Attacke in der letzten Nacht. Gestern hat meine Selbstgefälligkeit Prügel bezogen.

Wir gehen in ein Reisebüro in Gstaad. U.G. selbst macht die Reservierungen für meine Heimreise. Das Datum für meine Abreise ist festgelegt. Ich werde am 8. nach London fliegen. Nur noch fünfzehn Tage hier in Peinland! Ich beginne das Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Oder vielleicht den Tunnel am Ende des Lichts. Bitte mach das Licht aus. Ich will meine Dunkelheit zurückhaben!

U.G. sagt: "Guten Morgen," und geht in die Küche. Er sieht auf die Wanduhr und verkündet die Zeit. Es ist Viertel nach sechs. Wieder dringt aus der Küche das vertraute Geklapper von Töpfen und Pfannen. "Ihr Kaffe ist fertig, Sir" sagt er. Ich werde heute am Eßtisch nicht mit ihm sprechen. An diesem Morgen werde ich ausschließlich an meinem Skript arbeiten.

Da kommt Scott herein und plötzlich ist im Raum Bewegung. "Ich bin voll und ganz Teil dieser Welt. Was wollen Sie, daß ich tun sollte? Soll ich in einer Höhle leben? Sie sind es, die mit der Gesellschaft in Konflikt stehen. Deshalb laufen Sie auf Ihrer Suche nach Frieden von ihr weg. Warum zum Teufel flüchten Sie denn weiter hinauf auf diese Berggipfel? Die Welt kann nicht anders sein, als sie ist," sagt U.G. mit nicht nachvollziehbarer Emphase.

Ich glaube, ich weiß jetzt, worin mein Problem besteht: Mein Problem, meine Tragödie ist, daß ich so sein will wie er. Er aber will nicht, daß ich bin wie er. Er will, daß ich ich selbst bin. Aber ich will nicht ich selbst sein. Ich will sein wie er. Und ich weiß, daß ich nie sein kann wie er. Ich kann nur so tun, als wäre ich wie er. Das ganze kulturelle Spiel ist eine Übung darin, die eigenen Ansprüche zu perfektionieren. Werde ich jemals meine Beschränkungen in Würde annehmen können und damit aufhören nur zu heucheln? Wahrscheinlich nie, nehme ich an.

Ich muß an einen Spruch von Nietzsche denken: "Zeige mir einen großen Mann, und ich zeige dir einen Affen seiner eigenen Ideale." Wie wahr. Kein Wunder, daß der arme  Kerl wahnsinnig wurde.

Bob, Paul und ich bleiben oben und reden über diesen Mann, der U.G. genannt wird. Paul sagt, man müsse mit einem Hang hin zu solchen Sachen, über die U.G. spricht, geboren sein. Warum würde man sonst den Schmerz und die Unannehmlichkeiten, die sie verursachen, auf sich nehmen? Genau in diesem Augenblick ruft Mario: "Mahesh, dein Meister will, daß du zum Mittagessen herunter kommst." Mein Herz setzt für einen Schlag aus. Und was jetzt?, sage ich zu mir selbst, und renne wie ein gehorsames Kind nach unten.
 

Harry, dessen Mutter ihn als 'intellektuellen Zwerg' bezeichnet, schenkt U.G. jedes Jahr einhundert Dollar zum Geburtstag. Heute hat er ihm wieder Geld gegeben. U.G. sagt: "Von Euch allen, die Ihr mir Geschenke gemacht habt, sind die Ihren die am meisten geschätzten, Harry. Wissen Sie warum? Weil Sie Toiletten reinigen, Fenster putzen und Fußböden aufwischen. Sie haben wirklich hart für dieses Geld gearbeitet. Das ist der Grund. U.G.s Aussage überrascht jeden im Zimmer. Sweet Harry ist verlegen, aber auch sehr geschmeichelt, daß er von U.G. dieses Kompliment erhält.

Spät am Abend spricht Gottfried über seine Nah-Todeserfahrungen im zweiten Weltkrieg. "Wenn du solche intensiven Erfahrungen machst, erkennst du allmählich, daß die Wahrheit nicht etwas ist, das dir gehört - auch nicht deiner Frau, deinem Hund, deinem Kind - gar nichts."

Das Thema des Todes scheint in all unseren Unterhaltungen wieder aufzutauchen. Es ist sehr heiß.

In diesem Moment klingelt des Telephon. Ich nehme eilig den Hörer ab, weil ich annehme, daß es ein Gespräch aus Indien ist. "Kann ich mit Bob Carr sprechen? Hier ist die Botschaft der Vereinigten Staaten, wir rufen aus Thailand an." "Einen Augenblick, bitte. Ich werde ihn rufen. Bob hat schon auf Ihren Anruf gewartet," sage ich und gebe Kiran, Moortys Sohn, zu verstehen, er möge Bob holen.

"Ich habe schon früher versucht, Sie zu erreichen, aber hier in Thailand sind viele Telephonleitungen von einem starken Sturm beschädigt worden," sagt eine ruhige, professionell klingende Stimme durch das Telephon. Einige Augenblicke später, während ich eine Menge Leute im Wohnzimmer beobachte, die lachend mit U.G. schwatzen, muß ich sehen, wie der ansonsten vergnügte und selbstbehrrschte Bob wie ein hilfloses Kind in der Ecke sitzt und angespannt der Stimme im Telephon lauscht. Ich bemerke, wie er zunehmend zittrig wird. Ich sehe, wie die Endgültigkeit des Todes seines Freundes ihn jetzt trifft. Ich entnehme der Unterhaltung, daß Connies Körper noch nicht verbrannt worden ist. Sie haben auf Bobs  Zustimmung gewartet. Er erteilt sie. Dieser Anruf hat als der sprichwörtliche 'letzte Strohhalm' gedient. Als Bob den Hörer auflegt, bricht er zusammen und beginnt zu weinen. U.G. ist überrascht, als er Bob weinen sieht. Das Ende ist hart.

23. Juli ... VIERZEHNTER TAG

Noch zweihundertsiebzig 'wache Stunden'; mein Aufenthalt hier in Gstaad ist zur Hälfte vorbei. Ich bin viel gelaufen hier. Die Telephongespräche mit Indien haben mir etwas zu tun gegeben. Mit meinen Leuten in Bombay zu sprechen, ist meine einzige Verbindung zu 'geistiger Normalität'. Die Leute sagen, ich hätte an Gewicht verloren. "Das Essen ist Feind Nummer eins für den Menschen. Wir essen zu viel, und wir essen zum Vergnügen. Der Körper braucht nicht so viel Nahrung. Weniger Essen wird Ihnen nicht schaden, aber mehr wird Sie mit Sicherheit schneller umbringen," sagt U.G. beim Frühstück.

"U.G., Sie gehen mit der Ehe hart ins Gericht," sagt Julie, und wagt es, die Küche zu betreten. "Sagen Sie mir, wozu sollte dieses Stück Papier denn gut sein, wenn es nicht zur Sicherung des Eigentums dient?" fragt er. Sie ist sprachlos.

Aufgeschnapptes aus U.G.s Gesprächen:

... Die Probleme der Welt sind nichts als Verlängerungen unserer persönlichen Probleme.

... Einsichten haben nichts zu bedeuten. In einer bestimmten Lebenssituation benimmt sich ein Mensch mit Einsicht genau wie jeder andere auch. Hat der Psychologe für sich die Probleme lösen können, die er zu analysieren versucht?

... Der Tod ist eine Erlösung für den Menschen, der leidet. Aber selbst hier wäre es Ihnen lieber, Ihre Beziehung zu dem leidenden Menschen aufrechtzuerhalten und ihn mit all den lebenserhaltenden Maschinen weitermachen zu lassen, als die Leere zu ertragen, die durch seinen Tod entstehen wird. Sehen Sie, wie selbstsüchtig Sie sind?

... In den meisten Situationen wollen Sie zwei Dinge gleichzeitig haben. Das ist Ihre Tragödie.

... All Ihr feministisches Gerede ist keinen Pfifferling wert. Ich kenne eine Frau, die sagt, sie könne es nicht ertragen, mit ihrem Mann zu leben. Sie sagt, sie fände in widerlich. Und doch bleibt sie bei ihm, ohne sich dessen zu schämen. Warum? Einfach wegen des Geldes, der Sicherheit.

... Sie weinen, wenn Ihr bester Freund stirbt, aber Sie sind bestürzt, daß Sie für seine Beerdigung zahlen müssen. Sehen Sie jetzt, was Geld Ihnen bedeutet?

... Sie sagen: "Ich liebe  Dich, ich vermisse Dich," aber Sie überlegen es sich zweimal, bevor Sie ein Ferngespräch führen. Deshalb, Freunde, spreche ich immerzu über Geld. Es ist das, was offenbart, wo Sie wirklich stehen.

... Sie kontrollieren dich, indem sie dir Geld geben und sie kontrollieren dich, indem sie dir kein Geld geben... Solange Sie von jemandem etwas haben wollen, wird es immer jemanden geben, der Sie kontrolliert.

Für U.G. ist all das, was übrigbleibt, keine Rücklage. Am ersten Tag jeden neuen Jahres gibt U.G. alles her. Das hat er von Annie Besant gelernt, die diesen Zug von König Ashoka übernommen hat. Früher hat er alle fünf Jahre alles weggeben.

Die Hitzewelle ist vorüber.

24. Juli ... FÜNFZEHNTER TAG

Mein Bett spricht Bände. Die Weise, in der die Ränder der Bettdecke eingesteckt wurden, zeigt die Halbherzigkeit an, mit der die Arbeit ausgeführt wurde. Du bist, was du tust. Du kannst dich nicht von deinen Handlungen trennen. Deine Taten lassen dich erkennen, sage ich zu mir selbst, und schaue mein ungeschickt gemachtes Bett an.

"Ihre Bewegungen sind sehr anmutig, U.G. Ich sehe Ihnen gerne dabei zu, wie Sie jeden Morgen Ihre Haferflocken essen," sage ich am Eßtisch zu ihm. "Alle meine Bewegungen sind mechanisch, genau wie die einer Maschine," sagt U.G., unberührt von meinem Kompliment. "Aber eine Maschine ist nicht anmutig," argumentiere ich. "Doch, natürlich kann in einer Maschine große Anmut liegen. Haben Sie sich die Zeiger einer Uhr angesehen? Sie bezeichnen sie als Maschine und können daher nicht sehen, daß dort eine Grazie vorhanden ist." Ich sehe, was er sagt. In den Zeigern einer Uhr liegt wirkliche Anmut. Die Schlußfolgerungen, die wir ziehen, hindern uns daran, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. "Aber U.G., sehen Sie, jetzt betrachte ich die Maschinen mit dieser neuen Idee, die Sie mir gerade aufgetischt haben, und die besagt, 'auch Maschinen sind anmutig', nicht wahr?" U.G. nickt, "Ja, das tun Sie."

Nach einer Pause von einem Sekundenbruchteil frage ich: "Und was ist jetzt anders als bei meiner vorherigen Schlußfolgerung, daß Maschinen nicht anmutig seien?" Er lacht und sagt: "Nichts ist anders." Ich bin wieder einmal in einer Sackgasse gelandet. "Aber heißt das nicht, U.G., daß man, gleichgültig, was mach auch tut, die Welt doch nur durch seine Ideen und Vorstellungen sieht?" "Ja, Sir!" sagt er und geht in die Küche, um sein Plastikschüsselchen auszuwaschen. Ende des Frühstücks.

U.G. attackiert unsere Ansprüche und Vorwände. Zunächst fühlt man sich ausgezogen, nackt, aber später, wenn diese Panzerung zusammengebrochen ist, ist man erleichtert.
 

Meine Spaziergänge durch die Straßen Gstaads mit Scotty Scott heben meine Stimmung. Seine Lebensgeschichte ist einfach verblüffend. Die Geschichte dieses Zimmermanns aus Ojaj in Kalifornien ist inspirierender als alle 'erbaulichen' Bücher. Er bejaht das Leben. Scott Eckersley war der einzige Überlebende von elf Wanderern und Campern, die von dem reißenden Strom mitgerissen wurden und in der Sespe-Flut ertrunken sind.

Paul Sempé, Mario, U.G. und ich fahren nach Bern. Ich sitze auf dem Rücksitz des Autos und arbeite am Skript meines neuen Filmes 'Tamanna'. Während meines Aufenthaltes hier erhält das Skript eine Dimension, die es in Bombay nie erreicht hätte. Wir essen unser Lunch in einem vegetarischen Restaurant. "Sehen Sie nur, was in Indien passiert, dem Land, das so stolz war auf Ghandi und seine Philosophie der Gewaltlosigkeit. Es tötet täglich Hunderte von Menschen in Kaschmir, um seine Vorstellung von einem vereinten Indien zu verteidigen," sagt U.G. und sieht zu Paul Sempé hin, der ein großer Bewunderer Mahatma Ghandis ist.

Auf dem Rückweg kommen wir durch Fribourg. Hier ist die erste Universität Europas gegründet worden. U.G. lehnt alle Universitäten ab und nennt sie Konzentrationslager. "Wissen ist Macht. Wissen um des Wissens willen gibt es nicht. Das Streben nach Wissen dient dazu, über seine Nachbarn zu dominieren. Dieser Organismus will überhaupt nichts lernen." Und dann beginnt U.G. plötzlich wieder über sein Lieblingsthema zu sprechen - Geld. "Geld hat nichts mit Glück zu tun. Aber es ist besser mit Geld unglücklich zu sein als ohne. Menschen ohne Geld sagen oft: 'Schauen Sie sich all diese Menschen an, die Geld haben. Sind sie glücklich?' Sie sagen das, weil sie neidisch sind. Es ist tröstlich für sie, den Mangel an Geld mit solchen Sprüchen rechtfertigen zu können," sagt er.

Als wir nach Saanen hineinfahren, denke ich mir, daß Sprüche wie: "Man braucht Geld, um reich zu sein, aber es bedarf der Menschen, um glücklich zu sein," und die mir so eindrucksvoll erschienen, nichts weiter sind, als die Schöpfungen von einem, der zu kurz gekommen ist.

25. Juli ... SECHZEHNTER TAG

Toll, wie gut mein Bett heute aussieht. Wenn man mit ganzem Herzen bei dem ist, was man gerade tut, erzielt man ein weit besseres Resultat, als wenn man nur halbherzig etwas tut, nicht ganz bei der Sache ist und nur an sich selbst denkt. Man sollte genau so arbeiten, wie man liebt.

Der Zimmermann aus Ojaj, Scotty Scott, der vor zehn Tagen hier ankam und aussah wie ein Mann, der gleich tot umfallen würde, ist gestern voller Lebenslust abgereist. (Er hat ein hübsches Mädchen gefunden. Sie werden in Bern die Nacht zusammen verbringen, bevor er in die Vereinigten Staaten fliegt). Ich glaube, ich werde eines Tages gewiß einen Film drehen, der auf Scotts Leben basiert.

"Sie sind sowohl Wollen als auch Nichtwollen. Diese Bewegung des Wollens kann niemals enden. Durch all diese Meditationstechniken, die von der Geistlichkeit und den Therapeuten auf dem Marktplatz verschrieben wurden, verlangsamen sich Ihre Wünsche nur und reduzieren sich ein wenig. Aber sie sind im Hintergrund durchaus immer noch vorhanden. Zu wollen, nicht zu wollen, ist auch ein Wollen. Das Ende des Wollens ist der Tod. Wollen Sie den Tod? Alles, wofür Sie sich interessieren, ist die Fortdauer," sagt U.G. zu einer großen Versammlung ehemaliger Rajneeshanhänger, die den ganzen Weg von Köln gekommen sind, um ihm zuzuhören.

Ein Gespräch:

Mahesh: U.G., kommt es Ihnen jemals in den Sinn, daß ich werden sollte wie Sie, oder zumindest etwas Besseres, als ich es jetzt bin?

U.G.: Niemals

Mahesh: Aber das ist es, was ich immerzu will. Ich möchte Sie sein. Warum will ich nur so sein wie Sie? Sagen Sie es mir. Ich verstehe das nicht.

U.G.: Sie können nicht verstehen. Das ist Ihre Tragödie. Der Würgegriff der Kultur verhindert, daß Ihre Einzigartigkeit zum Blühen kommen kann. Sie wollen immer jemand anderer sein, als Sie es sind. Das geschieht auf jedem Gebiet menschlicher Tätigkeit. Deshalb sage ich immer wieder, daß alle Universitäten, jegliche Erziehung, alle Schulen und Colleges, alle Institute, die versuchen, Sie in einen besseren Menschen umzuwandeln, wie Konzentrationslager sind. Aber Sie müssen die Sprache dieser Welt lernen, wenn Sie in diesem von Menschen geschaffenen Dschungel überleben wollen. Wenn Sie versuchen sollten, Ihre Kinder vor diesen Schulen und Institutionen zu schützen und sie in ein alternatives Erziehungssystem einzuweisen, das sich gegen den Wettbewerb ausspricht, würde sie das nur kaputtmachen. Lehren Sie ihnen nichts, was gegen den Wettbewerb spricht. Rivalität und Konkurrenz sind Fakten des Lebens. Ihre Kinder müssen hier leben und kämpfen. Wenn Sie sagen, Sie liebten sie, dann helfen Sie ihnen, die Werkzeuge zu erhalten, deren es bedarf, um den Lebensunterhalt zu verdienen, und dann gehen Sie ihnen aus dem Weg... Das einzige Interesse dieser Struktur (der Kultur) liegt darin, daß jedermann in sie eingefügt werden soll. Die Umklammerung dieser Struktur hindert Ihre Einzigartigkeit daran, zum Erblühen zu gelangen.

Mittags rufe ich in Bombay an und spreche mit Mukhesh. Seine Stimme verrät ihn. Ich spüre, daß er getrunken hat. Ich frage mich, wie ich damit aufgehört habe. Er hört sich glücklich an. 'Criminal', unser neuester Film, der gerade herauskommen soll, hat sogar schon bevor er in den Kinos ist, eine Menge Geld verdient.

Auf meinem Weg zurück von der Telephonzelle treffe ich Bob und Paul. Wir sitzen vor einem Laden mit Süßigkeiten und führen eine verrückte Unterhaltung darüber, was im Chalet Sonnenstrahl vor sich geht. Wir stimmen darin überein, daß nichts von dem, was U.G. sagt, irgendeinen Sinn ergibt. Ein Gefühl einer unheilvollen Ahnung und der Furcht verdüstert meinen Sinn.

Später in Bobs Zimmer lese ich eine Zeile aus J. Krishnamurtis 'Commentaries on Living', die besagt, wie dieses gierige Ding, genannt 'Ich', irgendwie fortbestehen will, indem es über seine eigene Auflösung die Aufsicht führt. U.G. stürmt ins Zimmer, nimmt mir das Buch aus der Hand und sagt: "Was immer dieser Kerl gesagt hat, es ist in seinem Leben nicht wirksam geworden. Jemand, der dieses Ding, genannt das 'Ich', nicht mehr besitzt, kann nicht hergehen und die Frau seines besten Freundes vögeln, wie es dieser Gauner getan hat."

Ich spreche am Telephon mit Justin Lazard, dem amerikanischen Schauspieler (Julies Sohn). Seine neue Fernsehserie, Central Park West, wird am 13. September 1995 ausgestrahlt. Justin erzählt mir seinen Traum. Er hat geträumt, daß seine Serie ein totaler Mißerfolg würde. "Hör zu, Justin, damit bist Du nicht allein. Das ist der Alptraum jedes Entertainers auf der Welt. Nimm's leicht!" sag ich ihm. Er lacht erleichtert. Showbusiness ist überall gleich.

Wir sind in Marios Wohnung; er hat ein italienisches Essen für uns gekocht. CNN verkündet, es habe in einer Pariser Metro eine Explosion gegeben. Marisa und Paul Sempé sind verstört. U.G. wird von dieser Tragödie in keiner Weise berührt. Er sagt: "Warum tun Sie denn alle so, als ob Ihnen etwas am menschlichen Leben gelegen sei? Was geschieht, wenn Sie töten? Was haben Sie im Irak getan? Warum gehen diese Führer, die Euch Euren Patriotismus beibringen, nicht hin und kämpfen in diesen Kriegen? Während des Golfkrieges habe ich zu Julie gesagt, 'Ich möchte sehen, was geschieht, wenn sie Ihre zwei Söhne und Ihre Tochter in einem Leichensack nach Hause schicken würden. Dann werden Sie verstehen, was es heißt, für eine Sache zu sterben.' Die menschliche Spezies ist die abscheulichste Spezies auf diesem Planeten. Sie wird sich selbst auslöschen. Keine Macht kann diesen Kurs wieder umkehren." Im Zimmer ist es so still, daß man die berühmte Nadel fallen hören könnte. Niemand sagt ein Wort.

Ich werde vom öffentlichen Telephon am Bahnhof in Gstaad beraubt. Ich werfe fünf Franken ein, aber als ich den Hörer auflege, gibt mir das Telefon meine drei Franken Wechselgeld nicht zurück. Während ich den Hügel zum Chalet Sonnenstrahl hinaufgehe, sage ich mir: "Nun, Mr. Bhatt, seien wir doch ehrlich. Drei Franken zu verlieren, tut weh. Nun stell dir aber mal vor, du würdest alles verlieren, was du hast. Das ist es, was sterben bedeutet. Bist du bereit zu sterben? Mein ganzes Wesen wendet sich weg von dieser Frage.

Der Raum ist voller Menschen, hauptsächlich ehemalige Sannyasins von Rajneesh, die eine von Bob und Paul aufgenommene Videoaufnahme anschauen. Eine angeregte Diskussion zwischen U.G. und einer Gruppe von Leuten hält uns alle gefesselt. Es ist Abend, und draußen regnet es. Ich muß an die Tage denken, als ich noch im spirituellen Supermarkt nach Ekstase und Seligkeit suchte. Genau dann bemerke ich U.G., der in einer dunklen Ecke steht und still seine eigene Videoaufnahme ansieht. Er sieht aus wie ein Fremder in diesem Raum. Er scheint sein eigenes Abbild auf dem Fernsehschirm nicht zu erkennen. Die Einfachheit dieses Menschen, der U.G. genannt wird, zu beobachten, ist herzzerreißend. Ich kann nicht anders, als an den Pomp und die Grandeur von Rajneesh oder J. Krishnamurti zu denken. Wie bewußt diese beiden sich ihrer eigenen Größe waren!

26. Juli ... SIEBZEHNTER TAG

"Verhaftetsein wird deshalb zu einem Problem, weil wir ungebunden sein wollen. Was stimmt nicht mit dem Verhaftetsein? Die Permanenz: wir können nicht auf ewig an unseren Bindungen festhalten. Da man das weiß, steigt man in das Karussell des Losgelöstseins. Das alles kommt Ihnen sehr anziehend vor, denn Sie meinen, Sie hätten jetzt ein Mantra, das Ihnen dabei helfen wird, mit all den Schmerzen und dem Leid fertigzuwerden, die das Verhaftetsein Ihnen bringt. Dann werden Sie mit der Idee des Losgelöstseins verhaftet und verbringen den Rest Ihres Lebens damit, das Ziel des Losgelöstseins zur Realität werden zu lassen," sagt U.G., als ich meinen Morgenkaffee rieche.

Fliegen, zu viele Fliegen. Die schweizerischen Fliegen sind fett, ganz anders als die mageren, die wir in Indien haben. "Die Schweizer düngen ihr Gras mit Kuhmist. Sie benutzen keinen chemischen Dünger. Deshalb haben Sie so viele Fliegen um sich herumschwirren," sagt U.G., "Diese haben ein größeres Anrecht darauf, hier zu sein, als Sie." "Guten Morgen, U.G., und vielen Dank auch," antworte ich. Diese Unterhaltung findet in der ersten halben Stunde des Morgens statt. Die Uhr zeigt zwei Minuten nach sieben.

Später, als wir den sich windenden Weg ins Tal zum Gstaader Postamt hinuntergehen und U.G. aufpaßt, daß wir nicht auf die Gartenschnecken treten, erzählt U.G. eine Begebenheit aus seiner Kindheit: "Als Kind habe ich gesehen, wie mein Großvater aus seinem Meditationsraum gestürmt ist und sein eigenes Urenkelkind verprügelt hat, weil es schrie und seine Meditation gestört hatte. Ich habe mich gefragt: 'Worum geht es bei dieser Meditation eigentlich?' Ich habe ihn nie deswegen verurteilt, daß er das Kind geschlagen hat. Ich konnte sehen, wie frustriert und voller Zorn er war - er konnte gar nicht anders handeln. Aber ich habe die ganze Idee von Meditation und den sogenannten seligen, friedlichen Zustand in Frage gestellt, in den sie einen angeblich versetzen soll. Da ich es also für mich selbst herausfinden wollte, begann ich zu meditieren. Ich entdeckte bald, daß alles, was ich während der Meditation erlebte, meine eigene Schöpfung war. Ich fand auch heraus, daß die Lehrer, die diese Dinge vermarktet haben, Menschen waren wie ich, die selbst nicht über diesen Zustand verfügten. Nachdem ich also jahrelang meditiert hatte, ließ ich es fallen. Ich sagte mir, daß die Vorstellung eines seligen Zustandes mich verfälschte. Es war diese Vorstellung, die in mir das Gegenteil schuf, und das war das 'Ich'."

"Erste Kommunikation, Globale Wiedervereinigung in Mexiko, NUR MEISTER, Hermetics Societies, 24. Juni 1996 (St. Johannes Tag), ego sum qui sum," steht auf einer E-mail an U.G. aus dem Internet auf Julies Computer. Das ist erst der Anfang" sagt U.G. "von den Verrücktheiten, die noch kommen werden."

U.G., Paul Sempé, Gottfried und ich fahren nach Thun zum Lunch. Der Tag ist strahlend, klar und warm.

"Picasso hatte den Mut, aus der künstlerischen Umklammerung seiner Zeit auszubrechen. Deshalb hat sein Werk diesen ganz eigenen 'Touch'. Aber unglücklicherweise ist er zu einem Hindernis und einer Barriere für die heutigen Maler geworden. Sie können einfach nicht von seinem Einfluß loskommen. Man muß das Vorbild verwerfen, um zum Eigenen zu kommen," sagt U.G. angeregt und überzeugend.

Thun ist eine attraktive Stadt. Wir gehen zur Fuß über eine Brücke. Die Brücke ist mit vielfarbigen Blumen gepflastert. Darunter sprudelt ein blauer funkelnder Fluß. Es ist ein seltenes, erfreuliches Erlebnis für einen Stadtjungen wie mich.

'Bio-pic' ist ein vegetarisches Restaurant in Thun, einer Stadt im deutschsprachigen Teil der Schweiz. Für gewöhnlich findet man mehr vegetarische Restaurants im deutschsprachigen als im französischsprachigen Teil der Schweiz. Das Restaurant sieht verlassen aus. Gottfried, Paul und ich bedienen uns von der Salatbar, und U.G. bestellt Rösti. Sein Blick richtet sich auf die Papierunterlage, die die Kellnerin vor ihm ausgebreitet hat. Auf ihr ist das Bild eines hübschen jungen Mädchens, das sich an eine Sprudelflasche lehnt und dabei den Rock hochhebt. Es ist eine Reklame für 'Henniez', einem schweizerischen Mineralwasser. "Sehen Sie, wie absurd das ist? Gestern haben Sie auf CNN alle diese Menschen in Amerika gesehen, die gegen die Pornographie protestiert haben, die über das Internet in ihr Heim eindringt. Jetzt sehen Sie hier, wie diese Burschen Sex dazu verwenden, Wasser zu vermarkten. Jeder verdient mit Sex Geld, verurteilt ihn aber gleichzeitig. Warum?" fragt U.G. "Das stimmt, denn selbst der Mann, der Sex verurteilt, verdient damit Geld, nicht wahr?" sage ich, und bin seiner Meinung.

U.G. sagt gewagte Dinge auf seine alten Tage. Als wir unser Essen beenden, macht er diese bizarre Bemerkung: "Vielen Dank, Gottfried, daß Sie die Rechnung bezahlen; vielen Dank, Paul, daß Sie uns hierher gefahren haben; und vielen Dank Mr. Bhatt, für das Vergnügen Ihrer Gesellschaft." Und dann kommt er mir gefährlich nahe und flüstert in mein Ohr: "Und vielen Dank, liebe Kellnerin, für den freien Ausblick auf Ihre Brüste." Das ist das Letzte, was man von einem Mann erwarten würde, der die Siebenundsiebzig hinter sich gelassen hat und auf die Achtundsiebzig zugeht.

Minuten später, als wir die Wendeltreppe hinuntersteigen, sagt U.G.: "Die Bewegung dieser Brüste hat meine vollkommene Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Nur dann, wenn ich mich selbst frage, was es ist, das sich da bewegt, wird das Wissen, das ich darüber besitze, wirksam und sagt: Brüste. Hier hört es auf. Über diesen Punkt hinaus baut sich nichts auf. Lustvolle Regungen sind mir nicht möglich. In dem Augenblick, in dem ich wegsehe, ist alles ausgelöscht." Ich kann mir nicht vorstellen, wovon er spricht. Also frage ich ihn: „Soll das heißen, Sie können sich das Bild dieser Brüste nicht mehr ins Gedächtnis rufen?" "Nein, das kann ich nicht," sagt er. "Nun, ich kann es," sage ich. "Das ist Ihre Tragödie, mein Freund. Wenn dieser Mechanismus verschwindet, der in Ihnen die Vorstellungen erweckt, dann verschwinden auch Sie. Sie werden an dieser Stelle, in diesem Augenblick physisch tot umfallen."

Wir fahren nach Gstaad zurück. Es ist heiß jetzt. An einer Abbiegung beschleunigt Paul plötzlich. Das weckt U.G. mit einem Ruck auf. Er war für ein Weilchen eingedöst. "Es tut mir leid, daß ich Sie gestört habe, U.G.," sagt Paul mit seinem reizenden französischen Akzent und einem kindlichen Lächeln. "Nein, Sie haben mich nicht gestört. Sehen Sie, der Körper reagiert nur auf die Situation. Er erwacht, um der Möglichkeit einer Gefahr entgegenzutreten. Dieser Organismus besitzt eine weit höhere Intelligenz, als dieses scheußliche Ding, das 'Intellekt' genannt wird und das von der Kultur geschaffen wurde. Dieser Körper ist nur daran interessiert, sich selbst zu schützen und zu vögeln. Unglücklicherweise haben wir den Sex in eine lustvolle Tätigkeit umgewandelt und auch dort die Dinge verdorben. Dieser Körper ist nicht an Ihrer Kunst, Musik, Malerei, Schriftstellerei oder Religion interessiert."

27. Juli ... ACHTZEHNTER TAG

Heute ist mein achtzehnter Morgen in Gstaad. "Sie sitzen im Dunkeln," sagt U.G., als er aus seinem Zimmer in die Küche geht, um sich der Routinearbeit der Zubereitung seines Frühstücks und meines Kaffees zuzuwenden.

Ich sitze hier am Eßtisch, schlürfe meinen Kaffee und höre den Geräuschen zu, die entstehen, wenn der Plastiklöffel auf den Boden der Plastikschale trifft. Er nimmt sein leichtes Frühstück zu sich. Das Geräusch der Papierserviette, die an seinen Lippen raschelt, unterbricht die Stille. Selbst Hören ist eine auf Genuß abzielende Bestrebung. Besonders dann, wenn man nach dem Klang der Stille lauscht. U.G. ist jetzt in der Küche und wäscht seinen Löffel und seinen Eßschale. "Jede Bewegung ist von der anderen unabhängig. Es ist der Verstand, der den Bewegungen ihre Kontinuität verleiht," höre ich U.G.s Stimme in meinem Kopf flüstern. Ich fange an, die Wahrheit dieser Aussage zu sehen. Er dreht den Wasserhahn zu, unterbricht so den Fluß des Wassers, und geht dann weg. Das Geräusch des Wassers, das im Abflußrohr verschwindet, ist belebender, als der Musik Ravi Shankars oder Beethovens zuzuhören.

"Hören ist Reden. Selbst Sehen ist Reden. In Ihrem Kopf reden Sie die ganze Zeit über. Ohne daß Sie den Dingen einen Namen geben, gibt es kein Erkennen. Dasjenige, das diese Regung erkennt und sie 'Geräusch' nennt, ist das, was Sie sind," sagt U.G., als ich ihm von meiner morgendlichen Erfahrung erzähle. "Heißt das also, daß dieses 'Sie', das ich das 'Ich' nenne, nichts als ein 'Sound Track' ist?" frage ich. Was er sagt, verwirrt mich. "So ist es. Und der wurde von der Kultur dort eingerichtet... Sie schaffen Hierarchien und zwingen sie anderen armen hilflosen Leuten auf. Es gibt keinen Unterschied zwischen Rockmusik und religiösen Liedern. Sogar mit dem Lesen machen Sie es so; selbst dadurch schaffen Sie in Ihrem eigenen Kopf neue Töne. Neue Töne scheinen für Sie sehr reizvoll zu sein. Neue Rillen, um die alten zu überspielen - das ist alles, was Sie wollen... Alles, was Sie schreiben, ist eine Lüge."

Spät am Tag erzählt U.G. eine Begebenheit, die sich zwischen ihm und J. Krishnamurti zugetragen hat: Krishnaji und U.G. machen einen Spaziergang in Madras. Sie treffen einen armen Jungen, der um Geld bettelt. Krishnaji umarmt ihn, anstatt ihm Geld zu geben. U.G. sagt: "Krishnaji, dieser Junge braucht keine Liebe oder eine Umarmung. Er braucht Geld." Krishnaji sagt: "Diese Umarmung wird ihn davon abhalten zu betteln." U.G. sagt: "Möchten Sie Ihren letzten Dollar wetten? Er wird morgen zur selben Zeit zurück sein, am selben Platz, und das gleiche tun." Und genau das geschah.

Heute lasse ich mein Ticket via London umbuchen. Ich habe meinen Plan fallengelassen, nach Athen zu fliegen, um dort nach einem Drehort zu suchen. Auf meinem Heimweg finde ich U.G., Bob, Paul und Lisa, die vor der Schweizerischen Kreditanstalt stehen. U.G. liest laut einen Brief vor, den er gerade von seinem Schwager, Dr. Seshagiri Rao, erhalten hat. Der Brief ist voll des Lobes für U.G. Dr. Rao war früher ein U.G.-Hasser. Er konnte ihm dreißig Jahre lang einfach nicht verzeihen, daß U.G. seine Schwester, U.G.s Frau, ‘verlassen’ habe. Bob, Paul und ich entwischen U.G. und setzen uns auf eine hölzerne Bank außerhalb des Gstaader Bahnhofs. Es kann gleichzeitig wohltuend und zum Verrücktwerden sein, all diesem Zeug Luft zu machen, das in einem aufgerührt wird, während man mit U.G. spricht. Wir geben alle drei zu, daß wir dem totalen Wahnsinn ins Gesicht starren, wenn U.G. sagt, was immer er auch sagt. Diese kleinen Ausbrüche aus dem Chalet Sonnenstrahl dienen einem Zweck. Diesem Manne ohne Unterbrechung ausgesetzt zu sein, ist einfach unmöglich.

Zur Essenszeit bittet U.G. Harry Deck, einen befreundeten Anwalt und Ex-Mehar-Baba-Anhänger aus Lancaster, Pennsylvania, den übriggebliebenen Dhal (indisches Linsengericht) ‘aufzuräumen’ (zu essen). Harry bedankt sich und preist seine Großherzigkeit. "Seit sich Ihre 'Herzlinie' geöffnet hat, U.G., ist es wundervoll, mit Ihnen zusammenzusein." U.G. unterbricht und sagt: "Harry, ich will nur deshalb, daß Sie das essen, weil ich die Töpfe und Pfannen leerhaben möchte. Es ist besser, das Essen geht in diesen Mülleimer (deutet auf seinen Magen), als in den in der Küche.“

Dann, einfach so, geht er plötzlich auf Julie los. "Machen Sie, daß Sie hinauskommen. Und lassen Sie nicht all das Zeug hier liegen. Ich will nicht, daß sich hier die Dinge ansammeln. Ich werfe Leute weg. Ich habe meine Frau, meine Kinder und alle anderen verlassen. Glauben Sie, ich sammle diese billigen Sachen, die Sie kaufen? Ich will nicht, daß dieser Klebstoff und diese Creme hier herumliegen. Geld lassen Sie nie herumliegen, nicht wahr? Was das Geld anlangt, verhalten Sie sich wie eine Hure..." Der Raum ist gerade von einem Wirbelsturm getroffen worden.

Unser alter Freund Gottfried Meyer, der Maler, und ich fuhren einmal durch die Straßen von Gstaad. "Sehen Sie sich diese vielen Autos an. Schauen Sie, was für eine Luftverschmutzung sie schaffen, U.G.," sagt Gottfried und dreht die Scheibe hoch, um sich vor dem Smog zu schützen. "Was ist mit Ihrem Auto, Gottfried? Was macht das denn? Trägt das denn nicht auch zur Luftverschmutzung bei?" U.G. zwingt einen immer dazu, Farbe zu bekennen, besonders dann, wenn wir uns von den andern absondern und so tun, als seien wir anders und besser als sie, oder als seien wir ihnen überlegen.

Aufgeschnapptes aus einer Unterhaltung am späten Abend:

"Sie haben nicht den Mut, alleine zu stehen, ungeachtet dessen, was das für Konsequenzen haben wird. Ich bleibe dabei, daß Sie, und nur Sie, der Gestalter Ihres Schicksals und der Architekt Ihrer eigenen Zukunft sind. Wenn jedoch eine Frau - oder ein Mann, je nachdem - auf der Bildfläche erscheint, dann fangen Sie an, Kompromisse  zu schließen. Das ist der Anfang vom Ende..."

"Ein guter Tag zum Gehängtwerden," sagt Bob, indem er die Ereignisse des Tages zusammenfaßt. Wir lachen. Sein 'Galgenhumor' funktioniert nicht.

28. Juli ...NEUNZEHNTER TAG

Die Erinnerung ist der Überrest vergangener Tage. Sie ballt sich zusammen und hindert uns daran, den lebendigen Augenblick einzuatmen. Bin ich denn nichts als der tote Abfall der Vergangenheit, ein nichtendender Widerhall der Milliarden von Gestern der menschlichen Rasse?

Unser 'Guten Morgen' kommt heute morgen simultan. U.G. sieht zum Fenster, sagt, "regnerisches Wetter heute..." und macht sich an die Zubereitung meiner neunzehnten Tasse Kaffee. Piepser von seiner neuerworbenen Taschen-Faxmaschine füllen den stillen Raum. Er ist dabei zu lernen, wie man dieses neue Gerät bedient. Er nimmt dazu Unterricht von einem neunjährigen Computerguru, Kiran. Kiran ist der Sohn von Narayana Moorty und Wendy. "Du mußt mir beibringen, wie man das benutzt," sagt er allen Ernstes. "Ich bin ein schlechter Schüler."

Man muß leer sein, um empfangen zu können. Das Geräusch der Fliege, die in meiner Nähe summt, dringt in mich ein. Ich bin von kindlichem Staunen erfüllt. "Die Erfahrung eines 'leeren Geistes' ist nur durch die Beschreibungen möglich, die die sogenannten religiösen Lehrer liefern. Was man nicht weiß, kann nicht erlebt werden. Sehen Sie denn nicht, daß in Ihrem sogenannten leeren Geist jemand ist, der Ihnen sagt, daß Sie die Erfahrung eines 'leeren Geistes' machen?" sagt U.G.

Den Nachgeschmack eines 'leeren Geistes' auszukosten, ist, als würde man sich die Bilder eines guten Geschlechtsverkehrs nochmals vorspielen.

Der ruhige Morgen wird von der Ankunft Julies zerrissen. "Warum sind Sie  hier, Julie?" fragt U.G., sobald sie den Raum betritt. "Ich wollte nur wissen, ob jemand mit mir nach Genf fährt," sagt sie, wohlwissend, daß ihre Lüge nicht funktionieren könnte. "Spielen Sie nicht dieses Spiel mit mir, Julie," braust U.G. auf. Sie eilt in die Küche, um seiner Attacke zu entgehen. "Ich will nicht, daß Sie etwas für mich bringen," wütet U.G., der spürt, daß sie dabei ist, etwas auszupacken. "Ich habe Ihnen Müllbeutel mitgebracht," sagt sie, und versucht unbeirrt zu klingen. "Das ist alles, was Sie bringen können, Müllbeutel. Geld werden Sie niemals bringen...  Machen Sie, daß Sie hinauskommen," schreit er. "Was habe ich denn getan?" fragt sie. "Gehen Sie endlich weg, das ist alles, was ich will. Es ist nicht, was Sie getan haben, sondern was Sie sind, das ich verabscheue. Ich will nicht, daß Sie sich ändern. Aber jemand, der eine solche Einstellung zum Geld hat, wie Sie, hat bei mir keinen Platz," sagt U.G., und scheucht sie weg. Julie geht weg. Mein 'leerer Geist' hallt jetzt von den Nachbeben dieses Ausbruchs wider.

An einem Filmskript zu arbeiten, ist heutzutage ein großes Vergnügen. Es scheint alles so einfach zu sein. "Weißt Du warum?" fragt Bob Carr und schenkt mir eines seiner warmen zahnlosen Lächeln. (Bob hatte früher Verbindungen  zur Entertainment-Industrie in Hollywood. Später wurde er selbst so etwas wie ein Guru, bis er U.G. traf und das alles aufgab.) "Warum?" frage ich. "Einfach weil Du es machen willst," antwortet er.

Zu wollen, daß ein Vergnügen für immer anhält, ist Schmerz. Alles Leiden ist dadurch verursacht, daß man das Leben verlängern möchte. Wir sollten sein wie die Tiere; zehn, zwanzig Lebensjahre, das ist genug. "Sie werden eines elenden Todes sterben, Paul," sagt U.G. "Ihr ganzes Jogging, Ihr ganzes Yoga, Ihr Wandern und all Ihre Vollwertkost werden Ihnen nicht helfen, die Dinge auf ewig weiterlaufen zu lassen." Paul Sempé, ein dreiundsiebzigjähriger pensionierter Kapitän zur See aus Marseille, ist der selbsternannte Sommer-Chauffeur U.G.s. Er ist ein glühender Verehrer von Descartes, und er liebt Ghandi. Was mich an Paul erstaunt, ist, wie er die gnadenlosen Schläge U.G.s mit einem Lächeln erträgt. Wenn man aber genau hinsieht, dann erkennt man, daß etwas in ihm erschaudert.

"Warum verurteilen Sie einen Drogenabhängigen, und warum machen Sie so eine große Affaire aus dem Vergnügen, das man aus diesen Meditationstricks gewinnt? Der Schaden, den man dem Körper durch die Einnahme von Drogen und Alkohol zufügt, kann gemessen  und wieder behoben werden. Der Schaden durch die Meditation ist dagegen irreparabel und irreversibel. Wenn es Ihnen nicht gefällt, wie ich die Menschen behandle, dann gehen Sie doch einfach weg. Ich brauche Julie nicht, sie braucht mich. Alle Beziehungen, die Sie mit mir haben, sind nur einseitig. In Ihrem Beziehungsspiel, in dem es zwei Handelnde gibt, kann das Spiel um die Kunst, dem anderen immer einen Schritt voraus zu sein und die Kontrolle über den andern zu behalten, immerzu weitergehen. Nicht jedoch hier. Zu mir können Sie keine Beziehung aufnehmen. Das Beziehungsspiel wird sogar noch gemeiner, wenn es dabei um Sex geht. Das wissen Sie...,“ sagt U.G. als die Nacht herinbricht.

29. Juli ... ZWANZIGSTER TAG

Der Countdown hat begonnen. Nur noch neun Tage, dann werde ich diesen Ort hoffentlich verlassen haben. Gerüche und Geräusche einer fernen Vergangenheit rasen durch die dunkle Leinwand meines leeren Kopfes.

Ein neuer Tag hat begonnen. Warum schreiben die Menschen so viel? Warum schreiben sie eigentlich überhaupt? Tun sie es, weil sie einsam sind und voll des Bedauerns? Oder ist es deshalb, weil der Verstand versucht, durch das Aufschreiben Dinge zu bewahren und für immer aufzuheben, von denen er weiß, daß er sie längst verloren hat? Das Schreiben ist die Suche des Menschen nach Fortdauer.

Längst zu Grabe getragene Augenblicke vergangener Tage steigen aus ihren Gräbern und beginnen, sich selbst zu schreiben. Ich arbeite beharrlich an meinem Skript und lasse viel von mir selbst in jede Szene fließen.

Alle Sinngebungen sind die eigenen. Der Akt des Schreibens entbindet einen genau von der Welt, mit der man sich verbinden möchte. "Sie mischen die Farben und schaffen neue, aber wenn Sie Ihre sogenannten neuen und originellen Farben in ihre Grundbestandteile reduzieren oder aufspalten, dann werden Sie erkennen, daß Sie wieder bei den Grundfarben angelangt sind, die Sie von der Natur gestohlen haben. Worüber wir sprechen, das sind jedenfalls nur Konzeptionen. Es ist ein Faktum, daß das physische Auge keine Farben erkennt. Das Nichtvorhandensein von Farben ist nicht schwarz und weiß," sagt U.G. "Was ist es dann?" frage ich, von dieser Behauptung verwirrt. "Das werden Sie niemals wissen," schließt U.G.

Später am Morgen, als ich auf das bunte Tal von Gstaad blicke, donnert U.G.s Stimme in mir. Bin ich bereit, das, was er sagt, anzunehmen? Offensichtlich nicht. Wenn ich das täte, dann würde das meine eigene Vernichtung nach sich ziehen. Genau diese Handlung, in der ich meinen Stift auf das Papier setze, würde einfrieren. Keine weiße Seite, um darauf zu schreiben, keine schwarze Tinte, um damit zu schreiben, kein Licht, keine Dunkelheit. Worte erweisen sich als herzzerreißend plump und unzulänglich. Es gelingt ihnen nicht, das zu vollbringen, was schließlich ihre vorrangige Funktion ist - die Kommunikation.

Dieses Tagebuch ist so etwas wie eine reumütige Autobiographie eines Filmemachers. Vielleicht ist es auch eine kritische und nachdenkliche Pause im mittleren Alter. Mit sechsundvierzig habe ich das Gefühl, als hätte ich alles hoffnungslos falsch gemacht. Wenn ich jetzt zurückblicke auf mein Leben, dann merke ich, daß ich nicht einmal meine eigenen Jahre interpretieren kann. Mein Aufenthalt hier in Gstaad hat mir die Gelegenheit dazu gegeben, meine Wunden zu lecken und einen Prozeß einzuleiten, der dazu dienen soll, mich selbst neu zu erfinden. Ich habe versucht, in diesen Notizen mitleidslos auf diese organische Falle, genannt Leben, zu blicken, in der wir Menschen inmmerwährend dem Risiko einfacher chemischer Unfälle oder biologischer Angriffe ausgesetzt sind.

... Wenn ich mir das Phänomen U.G. betrachte und versuche, es zu verstehen, komme ich mir vor, als wäre ich mit einer Taschenlampe gekommen, um die Sonne zu betrachten.

30. Juli ... EINUNDZWANZIGSTER TAG

Ich blättere durch die Buchbesprechungen in der New York Times. Da ist ein Buch mit dem Titel: 'Die Maschine der Vernunft; Der Sitz der Seele'. Dieses Buch ist eine philosophische Reise in das Gehirn. Es wurde von Paul M. Churchland geschrieben. Es ist die Arbeit eines Philosophen, in dem der Autor mit einer Argumentation, die sich in wissenschaftlicher Hinsicht auf dem neuesten Stand der Dinge befindet, zu dem Schluß kommt, daß das gesamte menschliche geistige Leben, so subjektiv es sich auch anfühlen mag, auf die materiellen Aktivitäten, die im Gehirn stattfinden, zurückzuführen ist. "Dieses Buch beweist nur, daß die Philosophen, die am Ende ihres Wissens angelangt sind, nun die Unterstützung der Naturwissenschaften suchen, um etwas in die Aktivitäten des Gehirns hineinzulesen. Was immer Sie sehen, das Sie von dem trennt, was Sie ansehen, ist eine Projektion Ihres Wissens. Dieser Bursche ist nur ein Metaphysiker, der eine neue Terminologie dazu benützt, um sich und dem Leser mitzuteilen, daß er glänzende neue Einsichten gewonnen habe. Aber, es tut mir leid, das nehme ich ihm nicht ab. Was mich angeht, so ist diese wissenschaftlich untermauerte Theorie dieses Burschen lediglich eine Mode. Die Leute kaufen sie, genau wie sie ein neues Großvaterhemd kaufen oder ein neues Automodell. Sie tun das, um sich selbst sagen zu könne, daß sie auf der Höhe der Zeit seien. Was immer man auch lernen, was man auch lehren mag, es ist funktional. Es dient nur dazu, in dieser Welt, die Sie geschaffen haben, zu funktionieren. Und das ist es auch, was Sie davon abhält, irgend etwas zu verstehen," sagt U.G., und verreißt damit Churchlands Buch.

Was man auch in dieses Feuer, das U.G. genannt wird, hineinwirft, 'verbrennt'. Es ist kein Wunder, daß jeder Kommentar, jede Einsicht, die man ihm anbietet, in der Luft zerrissen und zu Asche reduziert wird. Was sonst würde man vom Feuer erwarten?

Tagelanges Donnerwetter U.G.s:

"Jegliches Lernen und alle Lehren dienen destruktiven Zwecken. Man lernt die Naturgesetze deshalb, um seinen Nachbarn beherrschen zu können. Es ist das Spiel, dem anderen zu zeigen, daß man ihm um einen Schritt voraus ist. Ich habe nichts dagegen. Ich sage nur, wie es ist. Jegliches Lernen und alle  Lehren sind 'Kriegsspiele'. Sie sind nur daran interessiert, ständig zu gewinnen. Wohltätigkeitseinrichtungen sind die unanständigsten Einrichtungen, die der Mensch erfunden hat: zuerst stiehlt man das, was allen gehört, und dann benutzt man den Polizisten und die Atombombe dazu, es zu beschützen. Man gibt nur deshalb etwas für wohltätige Zwecke, um die Habenichtse daran zu hindern, daß sie gegen einen rebellieren. Außerdem fühlt man sich auf diese Weise weniger schuldig. Alle Wohltäter erleben ein Stimmungshoch, wenn sie etwas Gutes tun. Sie sind immer noch wie ein Pfadfinder" (mit der täglichen 'guten Tat').

Dieser Mann, U.G., bereitet sein Frühstück am Abend, bevor er schlafen geht, und sein Mittagessen direkt nach dem Frühstück zu.

"Sage Major, er solle seinen Yoga nicht zu ernsthaft betreiben. Sonst werden seine Rückenprobleme nur noch schlimmer werden. Körperübungen und Yoga sind schlecht für den Körper. Die einzige Übung, die man braucht, ist, der Nahrung und dem Sex nachzurennen, genau wie die Tiere es tun," sagt U.G. in einem Ferngespräch zu Chandrasekhar. "Ist das Geld, das ich Ihnen geschickt  habe, angekommen? Nein? Was ist denn los, Chandrasekhar? Wo ist denn das Geld abgeblieben? In welcher Bank? In der Schweiz oder in Indien? Jemand verdient an unserem Geld. Wie kann eine telegraphische Überweisung so lange dauern...? Grüße Suguna von mir und sage ihr, sie möge mich anrufen, sobald das Geld angekommen ist...."

Als er das sagt, legt er den Hörer auf und schimpft immer weiter über die Unseriosität und Ineffizienz des Bankensystems auf der ganzen Welt. Während Suguna dort in Indien dabei ist, zu ihren dreiundreißigtausend Göttern, Göttinnen und Götterlein zu beten, sie mögen U.G. nach Bangalore zurückbringen, macht U.G. Pläne, in die USA zu reisen. [Anmerkung: Wie üblich, so änderte U.G. auch diesmal seine Pläne und reiste stattdessen nach China, Australien und Neuseeland.]
Da er nun endgültig nicht mehr bei ihr und Chandrasekhar wohnen will, damit diese ihr eigenes Leben führen können, bringt U.G., während er in Europa ist, die Verhandlungen zu Ende, damit sie ein eigenes Haus haben können und ihre eigenen Entscheidungen treffen können, ohne auf ihn Rücksicht nehmen zu müssen. (Der Mietvertrag, in dem die Familie lebt, läuft aus.)

Seltsam, wie das Leben so spielt: man stelle sich nur eine indische Familie der Mittelklasse vor, die eine Zuwendung aus dem Vermögen einer verstorbenen schweizerischen Dame erhält, ermöglicht von einem geheimnisvollen indischen Weisen.

Wir sind im Begriff, uns am Abend hinzusetzen, um uns 'Forrest Gump' anzusehen. Plötzlich drischt U.G. mit einer Wildheit auf mich ein, die ich noch niemals zuvor gefühlt, gesehen oder erlebt habe. "Sie können nicht beides haben. Sie sind genau wie Julie. Haben Sie das verstanden? Sie können mit mir keine Beziehung unter Ihren Bedingungen haben. Sie wollen unbedingt eine Beziehung zu mir unterhalten, nicht ich zu Ihnen. Sie wissen genau, daß es mir vollkommen gleichgültig ist, ob ich Sie in diesem Leben noch einmal sehe...." Ich fühle mich tief verletzt und zum Schweigen gebracht. Eine eigenartige Ruhe senkt sich auf den Raum. Ich kann sehen, daß diese Heftigkeit, obwohl sie direkt an mich gerichtet war, auf alle anderen im Raum übergesprungen ist. Ich höre auf. Und ich gebe auf.

31. Juli ... ZWEIUNDZWANZIGSTER TAG

Noch sieben Tage. "Man braucht Mut und Geduld, um es bei diesem Mann, U.G. genannt, auszuhalten," sagte Marisa gestern nach dem Abendessen. Ich habe keinen Grund, nicht mit ihr übereinzustimmen.

Während ich hier in der Stille des anbrechenden Tages darauf warte, daß U.G. aus seinem Zimmer kommt, fühle ich mich ruhig. Im Körper ist nicht einmal eine Spur vom Donnerwetter gestrigen Abends  zu spüren. Ich muß daran denken, was U.G. mir einmal gesagt hat, als wir uns besonders intensiv über Sorgen und Frustrationen diskutierten: "Der Körper wird mit all Ihrer Verzweiflung und all Ihren Frustrationen auf seine Weise fertig. Er braucht dazu nicht die Hilfe Ihres Intellekts. Es gibt weder Lust noch Leid, die sich permanent in diesem Körper festsetzen könnten. Ihre Freuden und Leiden haben nur in dem, was als 'Erfahrungsstuktur' bezeichnet wird und was Ihr Intellekt ist, ihre permanente Existenz.

Wir trinken Kaffee. Ich bin ruhig. Nachdem, was gestern Abend geschehen ist, habe ich Angst davor, mit diesem Mann in Kontakt zu kommen. Dann fängt er aus unerfindlichen Gründen an zu sagen: "Mahesh, die Frage ist der Fragesteller, und der Zuhörer ist das Wort. Sie sind Eines. In dem Augenblick, in dem ich in das Nebenzimmer gehe, existieren Sie nicht mehr für mich. Weshalb Sie? - ich existiere selbst nicht mehr. Wenn ich mich dort in mein Bett lege, dann stelle ich fest, daß zwischen den Laken kein Körper liegt." Ich fürchte mich vor dem, was er sagt. Nichts ergibt irgendeinen Sinn, und ich habe das bestimmte Gefühl, daß ich nicht weiterkomme.

Wir fahren nach Zürich. U.G. sitzt mit Paul Sempé vorne, während Bob, Paul und ich uns auf den Rücksitz drängen. Unterwegs halten wir, um zu tanken. Als wir aussteigen, um uns die Beine zu vertreten, meint Bob scherzhaft: "Was haben wir nur getan, Mahesh, daß wie ein solches Schicksal verdient haben?" U.G. mischt sich ein: "Sie haben eine Menge getan, Bob, und Sie tun eine Menge. Alles, was Sie tun, sorgt dafür, daß Sie sich angespannt und elend fühlen. Alle Ihre Techniken, die dazu dienen, sich zu entspannen und sich gut zu fühlen, müssen aufhören. Nur dann werden Sie sich wohlfühlen."

Luzern. Von halb zehn bis halb elf gehen wir durch diese majestätische Stadt. Als wir die alte hölzerne Brücke überqueren, zeigt U.G. auf die Wasservögel, die im See nach Nahrung tauchen, "Sehen Sie sich diese Schwäne an. Sie sind voll und ganz davon in Anspruch genommen, sich ihre Nahrung zu suchen. Sehen Sie den kleinen da unten? Dieses Baby ist für sich und unabhängig. Das zu werden, dazu sollten Sie Ihren Kindern verhelfen."

Zürich. Wir gehen getrennten Weges und machen Zeit und Ort aus, an dem wir uns wiedertreffen wollen. Ich gehe in einen Buchladen. Ich bemerke, daß ich in dem alten Buch der Wandlungen, dem I Ging, blättere. Es weissagt mir, daß mir gute Zeiten bevorstünden. Es sagt außerdem, daß die Fortschritte, die ich machen würde, durch die Verbindung mit einem Weisen zustandekämen. Ein kleiner Trost für meinen schmerzenden, brennenden Körper. Die Worte Natarajs gehen mir durch den Sinn: "Der Mond geht über Ihren Geburts-Saturn."

Später sitzen Bob, Paul und ich auf einer Bank mitten im Zentrum von Zürich und spielen und erleben nochmals die Ereignisse des vergangenen Tages durch. Bob sagt: "Er sieht grimmig aus. Du steckst in Schwierigkeiten, in großen Schwierigkeiten, Mahesh!"

Bern. Wir fahren in die Stadt. Plötzlich gibt es einen Wolkenbruch. "Schauen Sie mit den Augen, und benützen Sie nicht Ihren Kopf, wenn Sie fahren, Paul. Ich gebrauche meinen Kopf nicht, weil ich keinen habe. Ihr ganzes Planen hat dafür gesorgt, daß Sie all die Kriege verloren haben, die Sie geführt haben. Schauen Sie nur, denken Sie nicht," sagt U.G. Der Regen hört auf, und der Himmel beginnt sich aufzuklären. Ich rufe in Bombay an. In geschäftlicher Hinsicht zumindest scheint alles gut zu gehen.

1. August ... DREIUNDZWANZIGSTER TAG

Ich wache mit pochendem Kopf auf. Das Bild des Schwans, der sich mit vollkommener Aufmerksamkeit der Nahrungssuche widmet, läßt mich nicht los. Seine unbeirrbare Suche nach Nahrung ließ ihn so anmutig erscheinen. Später am Morgen, während ich U.G. dabei zuschaue, wie er sich Broccoli kocht, erzähle ich ihm von dem Bild des Schwans, wie es in mir fortbesteht. "Das ist alles - die Jagd nach dem Lebensunterhalt. Das ist alles, was es gibt. Eine Form des Lebens lebt von der anderen. Selbst Ihre Gemüsepflanzen sind eine Lebensform..." Das war eine direkte Spitze gegen das gewisse Gefühl der Überlegenheit, das man insgeheim als Vegetarier hegt.

Kommentare von U.G. über Nahrung und Genuß:

"Der Mensch ißt um des Genusses willen. Ihre Eßorgien unterscheiden sich nicht von Ihren Sexorgien. Alles, was der Mensch tut, macht er um des Genusses willen. Um Genuß und Vergnügen zu finden, bedarf es des Denkens. Das schafft Probleme, denn es gibt keinen Genuß ohne Schmerz. Es ist in physischer Hinsicht unmöglich, den Genuß ewig andauern zu lassen. Also tritt der religiöse Mensch dazwischen und sagt: 'Du sollst dich vom Denken befreien!' und man stellt sich vor, daß ein gedankenloser Zustand ein sehr angenehmer Zustand sein müsse. Deshalb strebt man ihn an. Genuß ohne Denken gibt es nicht. Sie leben in einer Welt der Ideen, und deshalb sind Ihnen Ihre Ideen so wichtig. Sie selbst sind eine Idee!"

Während meines Aufenthaltes hier in der Schweiz habe ich, glaube ich, die richtige Speise für mich gefunden. Es ist ein höchst bequemes Gericht und eines, das mich für immer von meiner Abhängigkeit was das Essen angeht von meinen Frauen und Dienstmädchen befreien wird: eine Scheibe Brot und ein Glas Wasser. "Mit heißem Wasser zergeht das Brot noch viel besser im Mund", sagt U.G. Millionen armer Inder leben ausschließlich von Brot und Wasser. Sie werden viel seltener krank als all die Leute, die zwanzig-Gänge-Mahlzeiten zu sich nehmen. Ich muß an meinen Besuch Anfang der achtziger Jahre in New York denken. Einen Monat ohne Dhal leben zu müssen, hat mich verrückt gemacht. Ich litt unter Dhalentzug. U.G. sagt: "Man wird nach Gewürzen süchtig. Das Essen selbst ist eine Sucht. Aber die Gewürze deshalb aufzugeben, um sich selbst zu beweisen, wie hochentwickelt man sei, ist töricht."
 

Das eine zentrale Thema, das zur Zeit in seinen Reden immer wieder hervorbricht, ist: "An dem, was die Alleswisser gesagt haben, ist nichts dran. Auch ich sage nichts. Es besteht kein Bedarf, das, was sie gesagt haben durch das, was ich gesagt habe, zu ersetzen."

Der 1. August ist Valentines Geburtstag. In Bangalore halten Chandrasekhar und Suguna eine kleine Feier in einer Schule, die ihren Namen trägt, 'The Valentine Model School'. U.G. sagt, daß Valentine, die die Enkelin eines Geistlichen war, niemals eine Kirche betrat und daß sie Schulen haßte. Ist es nicht seltsam, daß es jetzt nach ihrem Tode eine Schule mit ihrem Namen gibt?

Mukesh ruft aus Bombay an, um zu sagen, daß ein bestimmter Aspekt der Publicity für 'Criminal', zu dem ich meine Zustimmung gegeben hatte, in Indien für Aufruhr gesorgt hätte. All die Zeitungen, die zunächst die Anzeigen veröffentlicht hatten, sagen nun ganz dreist, man dürfe sich nicht billiger Tricks bedienen, nur um Geld zu verdienen. "In den Staaten machen sie genau das gleiche," sagt U.G. "Time Magazine veröffentlicht lange Artikel, in denen das Rauchen verurteilt wird. Gleichzeitig drucken sie auch ganzseitige farbige Anzeigen mit Zigarettenreklamen."

Heute ist der schweizerische Unabhängigkeitstag. Er ist ein Anlaß für Festlichkeiten und Feiern. Die öde Stadt Gstaad ist voller Leben. "Es wurde viel Blut vergossen, um dieses Land aufzubauen. Sehen Sie hinunter auf den Tennisplatz, wie die Menschen singen und tanzen. Wer zum Teufel erinnert sich schon an die Opfer, die man gebracht hat, wenn man einmal tot und vergangen ist?"

Plötzlich öffnet der Himmel seine Schleusen. Eine Welle der Enttäuschung rollt über die Versammlung da unten. Es sieht so aus, das ob die Festivitäten des heutigen Abends von Mama Natur im Keim erstickt worden wären.

"Wann immer ich auch den Mund aufmache, spreche ich nur über mich selbst," sagt Dr. Leboyer, als U.G. ihn in das Wohnzimmer führt. Das ist seine Antwort auf U.G.s nüchterne Begrüßung: "Wie geht's?" "Wen gäbe es denn sonst, über den man sprechen sollte? Jedenfalls, selbst wenn man denkt, man spräche über jemand anderen, so spricht man doch nur über sich selbst," sagt U.G. abschließend. Dr. Leboyer ist ein bekannter Verfechter der 'Natürlichen Geburt'. Bis zu seiner Pensionierung hatte er 13.000 Babies in Paris zur Welt gebracht.

Der Film heute abend heißt 'Heaven Help Us'. Er ruft in mir Erinnerungen an meine Kindheit in der Don Bosco Highschool in Bombay zurück. Wir haben hier einige sehr gute Filme gesehen. Von all den Filmen, die wir gesehen haben, gefällt U.G. 'The Last Seduction' am besten. Was Filme anlangt, so hat U.G. den Geschmack eines Proleten. "Vergewaltigung, Mord, Chaos, das sehe ich gerne, und nicht Ihre Liebesgeschichten und psychologischen Dramen."

Am frühen Abend, als ich ihm sagte, daß wir jetzt alle guten Filme gesehen hätten und uns jetzt mit den schlechten vorlieb nehmen müßten, sagte U.G.:" Was macht das schon für einen Unterschied? Ein schlechter Film ist so gut wie ein guter." Hat man schon einmal eine solche Bemerkung über Filme gehört?

2. August ... VIERUNDZWANZIGSTER TAG

Telephonanrufe aus Bombay halten mich die ganze Nacht über wach. Jetzt ist es zehn Minuten nach Mitternacht hier in der Schweiz, das heißt in Bombay ist es jetzt wohl ungefähr 3 Uhr 30. Mukesh ist wieder betrunken. Er ist unfähig, der Aufregung standzuhalten, die 'Criminal' verursacht hat. Sie drohen damit, ihn festzunehmen. Er hat in Vorwegnahme dessen 'Medizin' geschluckt. "Wenden Sie jeden nur möglichen Trick an, um Erfolg zu haben. Anständige Mittel, wenn es möglich ist, und faule, wenn es nötig ist. Aber seien Sie bereit, den Preis für Ihre Handlungen zu bezahlen!" sagte U.G. einmal zu mir. "Das Problem, Sir, besteht darin, daß wir beides haben wollen; wir wollen das eine, ohne das andere zu lassen."

U.G. sitzt im sanften Schimmer des Morgenlichts auf einem Stuhl und betrachtet seine Hände mit kindlichem Staunen. Sein Großvaterhemd, das Robert für ihn gekauft hat, läßt ihn gut aussehen. Er hat den richtigen 'Look' für sich spät im Leben gefunden . "Können Sie sich vorstellen, daß wir beide, Sie und ich, die wir jeden Morgen all diesen Unsinn miteinander reden, eines Tages nicht mehr da sein werden? Dieser Körper, der Ihnen so wertvoll ist, wird eines Tages verbrennen und zu Asche werden. Können Sie sich das vorstellen?" Ich nicke zustimmend mit dem Kopf. Ein Teil von mir schreit: "Lauf, Mahesh!"

"Er ist ein talentierter junger Mann, der eine schwierige Zeit durchlebt," sagte U.G. und unterstütze mich, als ich vor fünfzehn Jahren ziemlich weit unten angelangt und ohne jede Arbeit war. Seine Worte gaben mir das Selbstvertrauen, dessen ich so sehr bedurfte. Ich erzähle diese Begebenheit Mario, der, so wie ich damals, heute durch eine schwierige Phase geht. In Marios Augen glimmt ein Fünkchen Hoffnung auf.

"Ich werden Ihnen eine große Tasche geben, in die all Ihre Sachen hineinpassen. Aber Sie müssen sie mir bezahlen. Warum sollte ein armer Inder einem reichen Inder, wie Sie einer sind, etwas umsonst geben?" Während er das sagt, zieht U.G. eine gut aussehende, farbige Reisetasche hervor und gibt sie mir. "Einhundert Franken auf die Hand," sagt er und hält mir seine leere Handfläche vor's Gesicht. Ich gehe schnell in meine Ecke und beschließe die Transaktion, indem ich behende eine Hundertfrankennote herausziehe. "Tatsächlich hat mich die Tasche aber nur sechzig und nicht einhundert Franken gekostet..." Jetzt geht U.G. in sein Zimmer und kehrt mit einigen Geldscheinen zurück. "Hier bitte, Sir, sind Ihre vierzig Franken, und noch einige Münzen als Bonus dazu, mit denen Sie spielen können." Robert Hornkohl, der amerikanische Photograph, der die bis heute besten Aufnahmen von U.G. gemacht hat, beobachtet das ganze Schauspiel mit höchster Faszination.

"Gut' Nacht-gut' Nacht," sagt U.G. zu mir und verschwindet ein weiteres Mal in seinem Zimmer. Im selben Augenblick, in dem er weg ist, fühlt es sich an, als sei niemand zu Hause. Ich werfe mich eine Weile in meinem Bett hin und her und warte auf den Schlaf. Gerade als ich dabei bin, einzudämmern, klingelt das Telephon und läßt mich auffahren. "Hier ist Nagarjun... Habe ich Sie geweckt, Sir?" "Nein, nein, gar nicht," sage ich und versuche höflich zu klingen. "Wie verlief die Premiere von 'Criminal'?" frage ich. "Ausgezeichnet. Ich glaube, wir sind aus dem Schlimmsten heraus. Der Eröffnungsvorstellung nach zu urteilen, haben wir mindesten ein B+ Stück hingekriegt." Ich bin erleichtert. Während ich seiner Stimme zuhöre, sage ich zu mir selbst: "Jeder Erfolg ist ein verzögerter Mißerfolg." Das erinnert mich daran, was U.G. mir wiederholt gesagt hat: "Mahesh, jede Prostituierte hat ihren großen Tag. Das Leben von Euch Entertainern ist wie das Leben einer Prostituierten. Man muß Heu machen, solange die Sonne scheint. Legen Sie sich eine anständige Summe beiseite, um Ihre Arroganz abzusichern, und dann gehen Sie weg, solange Sie noch ganz oben sind...." Ich hoffe, was er sagt, wird mir gelingen.

3. August ... FÜNFUNDZWANZIGSTER TAG

Das Leben eines Schriftstellers ist eine Qual. Tag für Tag ein leeres Blatt vor sich zu haben, ist wirklich schwer. Und dann auch noch etwas aus sich herausziehen zu müssen und es auf Papier auszubreiten, um es die ganze Welt sehen zu lassen, ist noch schlimmer.

An diesem Morgen wird zwischen mir und U.G. kein Wort gewechselt. Wir sitzen uns einfach gegenüber. Seine Augen sind geschlossen. Er sieht heute wundervoll aus. Da ich nichts anderes zu tun habe, äffe ich ihn nach und mache meine Augen auch zu. Ich fange an, den Geräuschen um mich zuzuhören - Züge, Autos, Vögel, das Quietschen des Sofas, das Rascheln von U.G.s Kleidern. Für einen Augenblick fühle ich mich ruhig. Dann, plötzlich, dringt das Gesumme dieser verdammten Fliegen in meine Ruhe ein. Da sie mich still dasitzen sehen, lassen sie sich auf mir nieder und haben einen Festtag. Sie haben meinen Körper zu ihrem Futterplatz umgestaltet. Sobald ich meine Hand hebe, um sie wegzuscheuchen, fliegen sie weg, aber sie kommen bald wieder, um ihre Beschäftigung fortzusetzen. Das geht immer so weiter, bis ich schließlich aufgebe. Sie lassen mich einfach nicht still sitzen. Ich mache die Augen wieder auf und bemerke, daß U.G. mich ansieht und lächelt. Er sagt spitzbübisch: "Fliegen, hm?" und lacht. Das erinnert mich an das, was er vor ein paar Tagen am Eßtisch zu mir gesagt hat: "Warum glauben Sie, daß Ihr Leben wichtiger wäre als das dieser Fliege, die dort auf dem Teller sitzt?" "Warum nennen Sie Ihr Buch nicht "Die Fliege auf dem Tisch?" schlägt Julie vor. "Keine so schlechte Idee," denke ich für mich.

U.G. sitzt im Wohnzimmer und ist von einer großen Gruppe Suchender aus ganz Europa umgeben. Da gibt es Deutsche, Italiener, Franzosen und auch Amerikaner. Plötzlich wendet sich U.G. von ihnen ab und zu mir hin: "Ihr in Indien müßt damit aufhören, all diese Leute in Euer Land zu lassen. Schmeißt sie hinaus, wenn sie an die Eingangstür klopfen und ein Visum haben wollen. Wissen Sie, warum sie in Ihr Land kommen? Sie kommen, weil sie dort mit ihren Pfunden, Mark und Dollars billiger leben können. Und wenn sie einmal da sind, dann benehmen sie sich, als seien sie die Größten. Und sie alle tauschen ihr Geld auf dem schwarzen Markt um. Die Regierung verdient gar nichts an solchen Leuten. Sie brauchen dieses Touristengeld nicht. China und Rußland sind jahrelang ohne Touristengeld ausgekommen." Seine Aussage enerviert jeden im Raum.

U.G. fühlte sich von der seit neuestem ausgeübten Praxis der europäischen Staaten, den meisten Indern, die ihre Länder besuchen wollen, kein Visum zu erteilen, abgestoßen. Wir wissen, daß die Schweiz jedem, der aus Südindien kommt oder einen südindischen Namen trägt, ein Visum verweigert. Die Gründe dafür, so sagen sie, sei der kürzlich erfolgte Zustrom von Flüchtlingen aus Sri Lanka in ihr Land. U.G.s Schwager, Dr. Seshagiri Rao, der in Indien ein eminenter Arzt ist, hatte in diesem Sommer während seines Aufenthalts in den USA Schwierigkeiten, ein Visum für die Schweiz zu erhalten. Er mußte seinen Plan aufgeben, U.G. hier in Gstaad zu besuchen. Als U.G. seine Meinung sagte, hatte ich das Gefühl, daß ich als Inder dieses Thema nach vorne bringen sollte, wenn ich nach Hause komme. Ich sehe wirklich keinen Grund dafür, warum ein Inder, der ein wenig Selbstachtung besitzt, diese Behandlung, die uns von den westlichen Ländern erteilt wird, einfach hinnehmen sollte.

"Rußland vor einem Rätsel, Leben verliert Rennen gegen Tod," steht in Schlagzeilen auf der ersten Seite der Herald Tribune. Als ich den Artikel lese, entdecke ich, daß die Lebenserwartung in Rußland in der letzten Zeit stark gefallen ist und daß die Wissenschaftler und Gesundheitsbehörden nicht herausfinden können, warum das so ist. Amüsanterweise gibt es auf der zehnten Seite derselben Zeitung einen weiteren Artikel unter der Rubrik 'Gesundheit und Wissenschaft', der sagt: "Das Leben ist ein Geheimnis - unbeschreiblich, unergründlich. Es ist das Letzte auf Erden, das einer genaueren Beschreibung zugänglich gemacht werden könnte. Und doch wurde zum ersten Mal ein selbständiger Organismus durch die chemische Identifizierung seines kompletten genetischen Plans definiert. Diese Kreatur ist nur ein niedriges Bakterium, bekannt als Hemophilus Influenzae, und doch besitzt es alle Mittel und Fertigkeiten, die für eine unabhängige Existenz vonnöten sind. Zum ersten Mal fangen die Biologen an, den gesamten Plan der Bestandteile dessen zu erkennen, was eine lebendige Zelle benötigt, um wachsen, überleben und sich fortzupflanzen zu können,..." Ist es nicht absurd, daß es in einem Teil der Welt Wissenschaftler gibt, denen es nicht möglich ist herauszufinden, warum die Sterblichkeitsrate sich plötzlich so beschleunigt hat, während auf der anderen Seite Menschen behaupten, daß sie endlich das Geheimnis des Lebens entwirrt hätten?

Zum Lunch haben wir einen charmanten Besucher. Sein Name ist Donald Ingram Smith. Er ist Australier, Mitte achtzig, und war früher einmal der Sekretär Jiddu Krishnamurtis. Er ist hier, um im Krishnamurti-Lager, das schon seit drei Wochen stattfindet, Vorträge zu halten. Donald trifft sich oft mit U.G. bei dessen Besuchen in Australien. Er ist, laut U.G., auch ein ausgezeichneter Handleser. Unter einem Weidenbaum sitzend, brachte Donald nach dem Lunch das Lesen von U.G.s Hand auf den neuesten Stand. Unsere New Yorker Freundin, Ellen Chrystal, die einmal dem inneren Kreis des amerikanischen Gurus Bubba Free John angehört hatte, machte dabei Notizen.

Donald sagt voraus, daß U.G. mit Sicherheit außerhalb seines Heimatlandes sterben wird. Er sagt, daß etwas aus dem spektakulären Gehirn U.G.s käme. "Es fließt in beide Richtungen," sagt Donald, "es ist wie eine Tür, aus der man heraus und in die man hineinkommen kann." U.G. antwortet: "Ich bin ein Dieb. Ich lade jeden, der kommt, dazu ein, alles mitzunehmen." Er erzählt die Geschichte, wie seine Frau einen Diamantring verlegt hatte und er ihr sagte, daß sie, wenn die Polizei gerufen würde, das Haus verlassen müsse. Sie hatte das Dienstmädchen beschuldigt, fand den Ring aber später. Die Polizei darf nicht in seine Nähe kommen... Dann erzählt U.G. die Geschichte von dem Taschendieb am Times Square in New York und wie U.G. ihn zum Essen in ein Vier-Sterne-Restaurant einladen wollte, weil er so angetan war von der Geschicklichkeit, mit der dieser seinen Beruf ausübte.

Donald sagt außerdem voraus, daß es in U.G.s Leben nochmals eine Explosion geben würde. U.G. antwortet: "Das nächste Mal, wenn wir uns treffen, sehen wir weiter."

Donald sagt, U.G. besäße kein Ego. U.G. antwortet: "Wenn ich kein Egoist bin, wer ist dann einer? Was ich öffentlich verkündigt habe, nämlich, daß alles, was jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in der Geschichte der Menschheit gedacht, gefühlt und erfahren hat, aus mir verschwunden sei, ist die aller-egoistischste Behauptung..."

Später sagt U.G., es sei seine Mission, alles, was er bis zu diesem Treffen gesagt habe, zu zerstören.

4. August ... SECHSUNDZWANZIGSTER TAG

Ich trage das neue Seidenhemd, das mir U.G. gestern geschenkt hat. Es war für eine ganze Weile sein Lieblingshemd gewesen. "Ich gebe Ihnen dieses Hemd, weil ich all das alte Zeug, das ich habe, loswerden will," sagt er und drückt mit das cremefarbige Kleidungsstück in die Hand. Heute scheint der Tag aus unerklärlichen Gründen eine Andeutung eines Neubeginns zu versprechen.

Ich bitte U.G., zwei Artikel zu kommentieren, die ich gestern in der Herald Tribune gelesen habe. "Die wissenschaftliche Welt von heute ist genauso wirrköpfig und verloren, wie es die religiöse Welt von gestern war. Wir sind Narren, unseren Glauben und unser Vertrauen in die Wissenschaftler zu setzen. Wir stellen uns vor, daß diese Burschen über eine besondere Einsicht in den Sinn und das Geheimnis des Lebens verfügten. Wozu sollte es gut sein, uns mit all diesem neuen wissenschaftlichen Jargon zu bombardieren und zu versuchen, uns damit einzuschüchtern? Der menschliche Organismus hat viele Jahrhunderte lang ohne die Hilfe dieser sogenannten neuen, revolutionären Theorien und selbstverkündeten Durchbrüche überlebt. All diese Theorien, die die Wissenschaftler als 'neu' bezeichnen, sind überhaupt nicht neu. Diese neue Dimension, die sie jetzt angeblich in der Natur entziffern können, hat immer existiert. Was also haben sie denn tatsächlich erreicht? Vielleicht werden sie von der Nobel-Akademie ein Schulterklopfen dafür bekommen. Ihre wundervollen, revolutionären Theorien werden von den Technokraten dazu benutzt werden, die Technologie und sich selbst zu bereichern. Ein kleiner Prozentsatz der globalen Bevölkerung wird sich am Nutzen dieser Technologie erfreuen können, aber lassen Sie sich dessen versichert sein, daß der Mensch im Endeffekt dieses technologische Wissen dazu gebrauchen wird, über seinen Nachbarn zu dominieren."

"Selbst die Apotheker, eigentlich die ganze medizinische Welt, gedeiht auf Ihrer Paranoia. Und die Medien, helfen ihnen dabei, diese Paranoia fortzupflanzen, um selbst zu überleben. Nur, weil sie einer Krankheit einen Phantasienamen  geben, bedeutet das noch nicht, daß sie auch eine Heilung dafür gefunden hätten. Sie fügen der Ansammlung von Wissen nur immer neues hinzu. Wir haben heute mehr Worte in unserem Arsenal als es Shakekspeare zu seiner Zeit hatte. Aber das will nicht heißen, daß es besser um uns stünde, nicht wahr? Sagen Sie, was Sie wollen, aber was das Leben ist, werden wir niemals wissen."

Da unten in der Stadt Gstaad blasen sie einen riesigen blauen Ballon auf. Wieder einmal machen sich die Feiernden auf, weit weg in den Himmel hinein zu fliegen. Hier oben in der Küche gießt U.G. Sahne in seinen Kaffee. Ich frage ihn, warum die Krishnamurti Foundation ein Buch herausgebracht hat, das auf gewisse Weise versucht, die Liebesaffaire Krishnamurtis mit Rosalind Rajagopal zu rechtfertigen (in einer Verlautbarung der Krishnamurti Foundation of America über das Buch von Radha Sloss 'Lives in the Shadow with J, Krishnamurti'). "Sie wollen die Lehre von dem Lehrer trennen. Wenn sie das nicht tun, wird die Foundation zusammenbrechen. Ganz offensichtlich sind sie von dem Buch von Radha Sloss betroffen. Was hätte es denn sonst für einen Grund geben können, jetzt ein solches Buch herauszubringen?"

Das erinnert mich an den Tag, an dem meine Kritik über Radhas Buch in der 'Sunday Times of India' in Bombay erschien und mich Pupul Jayakar, die Zarin der indischen Kultur, anrief und mir damit drohte mich zu verklagen, weil ich den 'Weisen, der alleine ging', verleumdet hätte und seiner Reputation geschadet habe. Sie und die Krishnamurtianer waren wütend auf mich und auf U.G. im besonderen, da ich dessen harte Zitate ausgiebig in meinem Stück verwendet hatte. Als ich ihre Herausforderung geradeheraus annahm und sie dazu einlud, ihre schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen, wich Pupul aus. Wie ich schon damals vermutete, ließ Pupul ihre Drohungen schon deshalb nicht wahr werden, weil sie sich davor fürchtete, selbst exponiert zu werden. Dieses kleine, von der Krishnamurti Foundation herausgegebene Bändchen, scheint diesen Verdacht zu bestätigen.

Aufgeschnapptes aus Gesprächen:

Schmerz: "Worte wandeln sich in physischen Schmerz um... Für den Körper gibt es keinen Schmerz. Erst dann, wenn Sie die Empfindung als Schmerz interpretieren, nehmen Sie diesen auch wahr. Ansonsten gibt es keinen Schmerz. Sie wollen den Schmerz loswerden und immerwährend am Genuß festhalten. Der Geistliche sagt Ihnen, daß das möglich sei. Ich weiß, das ist es nicht. Sie können Ihre gesamtes Leben damit zubringen, das zu versuchen, aber ich weiß mit Sicherheit, daß es Ihnen nicht gelingen wird. Sie werden das schließlich auch herausfinden."

Sex: "Sex zu haben oder 5000 Meter zu laufen, sind das gleiche," sagt Paul Sempé. Ausnahmsweise nickt U.G. zustimmend mit dem Kopf und fügt dann hinzu: "Sich verlieben und Schokolade essen sind dasselbe, denn sie produzieren im Körper die gleichen chemischen Veränderungen." Ich springe auf und fange an, auf der Stelle zu joggen. U.G. fragt: "Was tun Sie denn, Mister?" Ich antworte scherzend: "Ich habe Sex. Sie sind eben mit Paul übereingekommen, daß Sex haben und Joggen dasselbe wären. Also bin ich hier und habe Sex." U.G. lacht. Heute scheint er gute Laune zu haben.

Bei Sonnenuntergang sitzen wir unter der Weide und plaudern. Marisa erzählt von einem 'ungehörigen' Vorfall: Einmal setzte sich eine hübsche italienische Frau direkt vor Krishnamurti nieder, die, um es milde auszudrücken, von ihm sehr angetan war. Das währte eine ganze Weile. Schließlich, als die Dame sich verabschieden wollte, wandte U.G. sich zu ihr und sagte: "Lady, ich fühle alles, was auch Sie fühlen. Sorry, es kann nicht sein."

Da ich schon beim Thema Sex bin, kann ich auch gleich noch eine andere Begebenheit erzählen: Eines Tages ging eine Frau zu U.G. hin, sah ihm direkt ins Gesicht und sagte: "Wie wäre wohl Ihre Reaktion, wenn ich Sie verführen würde?" U.G. antwortete: "Versuchen Sie es doch, und Sie werden es herausfinden." Die Frau entschuldigte sich, floh aus dem Zimmer und ist niemals wiedergekommen.

Der Film heute Abend ist "Thelma und Luise". Dieser Film von Ridley Scott ist einfach, nicht wie "Blade Runner", der voll des visuellen Blendwerks war. 'Thelma und Luise' war ein großer Hit, viel größer als 'Blade Runner'. "Wozu sollte die Kunst, die Dinge gut auszudrücken, dienen, wenn sie einer Person gegenüber ausgedrückt werden, die selbst nichts zu sagen hat?" hatte U.G. damals in den achtziger Jahren zu mir gesagt. Diese Feststellung hat meinen ganzen Ausblick auf den Film verändert.

5. August ... SIEBENUNDZWANZIGSTER TAG

Zwei Spinnen besetzen meine Badewanne. Ich mag Spinnen nicht. Ich habe Angst vor ihnen. Also nehme ich die Dusche und versuche mit dem Wasserstrahl die schaurigen Kreaturen wegzusscheuchen. Aber der Strahl ist so stark, daß ich diese armen Tiere ertränke, anstatt ihnen nur Angst einzujagen. Während ich zusehe, wie diese hilflosen Insekten in den Abfluß verschwinden, fühle ich Reue. Die Botschaft ist klar: man tötet seinen Nachbarn aus Angst.

Badezimmer und Spinnen haben es auf sich. Julie erzählt mir, wie sie vor einigen Jahren, während eines Sommeraufenthaltes hier, eine Zuneigung zu einer Spinne, die in demselben Badezimmer lebte, entwickelt hatte. Sie war manchmal in der Wanne, manchmal an der Decke und dann wieder im Waschbecken. Julie mochte die Gesellschaft der Spinne. Am Ende des Sommers befand sich Julie jedoch in einem Zwiespalt: sollte sie sie in dem Badezimmer lassen, wo sie vom Staubsauger des Vermieters aufgesaugt und getötet werden würde, oder sollte sie sie ins Freie setzen, wo sie, wie sie glaubte, sicherlich erfrieren müßte? Sie ging zu U.G., um sich Rat zu holen. Seine Antwort: "Warum stricken Sie nicht einen Pullover für sie?"

U.G. zeichnet eine detaillierte Karte eines bestimmten Gebiets in London. Während ich dort bin, soll sie mir helfen, den Bücherladen zu finden, den ich gerne besuchen möchte, Ich bin vom Gedächtnis dieses Siebenundsiebzigjährigen ganz erstaunt. Es ist mit der Zeit nicht schwächer geworden. Hier ist keine Spur von Senilität. "Für mich gibt es keine Bilder. Wenn ich den H.M.V.-Shop auf der Karte einzeichne, dann habe ich kein Bild davon in mir. Alles, was ich habe, ist nur dieses Wort. Sie können das, was ich sage, nicht verstehen. Könnten Sie es, dann wäre das Ihr Ende." Marisa, die auch dem zuhört, was U.G. sagt, wendet sich mir zu und sagt prompt: "Wir müssen nicht alles, was U.G. sagt, auch anwenden, Mahesh. Wenn wir das täten, dann würde dies das Ende unserer Kunst bedeuten. Keine Malerei für mich, mein Freund, und keine Filme für Sie. Können Sie sich ein Leben vorstellen, in dem es Ihnen nicht mehr möglich ist, Bilder wiedererstehen zu lassen? Wer zum Teufel möchte so etwas haben? Das wäre ein schreckliches Leben." Und U.G. fügt hinzu: "Nicht nur, daß Sie nicht malen könnten. Sie wären auch nicht fähig, mit irgend etwas oder irgend jemandem eine Beziehung einzugehen."

Das letzte Supper:

Lisa fährt morgen ab und geht in die Vereinigten Staaten zurück. U.G. kocht heute Abend für eine Menge Leute mehr als gewöhnlich. Er ist gerade schlecht gelaunt. "Ich mag es nicht, alle diese Leute zu verpflegen und für sie zu kochen. Ich mache nicht einmal für mich selbst gerne Essen. Ich bin wie ein Hund. Ich hasse Ihre zivilisierten Sitten, die darin bestehen, um einen Tisch zu sitzen und Freßorgien abzuhalten. Ich werde diesen Tisch hinauswerfen. Das hier ist kein Ashram. Essen ist am untersten Ende meiner Bedürfnisse," poltert er. Alle sitzen herum und hören ihm still zu. Dann, als sein Essen fertig ist, steht jeder glücklich auf und ißt. Die Pasta aus 'Engelshaar', die U.G. gekocht hat, ist köstlich. U.G. ist ein großartiger Koch; und wahrscheinlich auch der schnellste. Er kocht einen Mahlzeit, die aus einem einzigen Gericht besteht, in exakt fünf Minuten. Ich liebe sein Essen.

Der Film heute abend heißt 'Blown Away', mit Tommy Lee Jones und Jeff Bridges. Der Film ist voll visuellen Blendwerks und voller 'Action', aber er funktioniert einfach nicht. Im Drehbuch gibt es keine innere Progression. Der Subtext stimmt einfach nicht. Gott, selbst um einen schlechten Film zu machen, muß man hart arbeiten.

6. August ... ACHTUNDZWANZIGSTER TAG

"Sie sprechen so leichthin vom Geld, als hätte es keine Bedeutung für sie, obwohl es tatsächlich eines der wichtigsten Ding in ihrem Leben ist. Diese frommen Männer sind habgierige, eifersüchtige und nachtragende Scheißkerle, genau wie alle anderen auch. Sie wollen durch Ihre Arbeit und Ihre Kinder fortleben. Diese Leute wollen durch ihre religiösen Institutionen weiterbestehen," sagt U.G. früh am Morgen, als ich ihm erzähle, daß Swamiji aus Bangalore in der Zeit, als U.G. sein Bad nahm, angerufen hätte. Bramachari Shivarama Sharma, den jedermann liebevoll 'Swamiji' nennt, ist ein heiliger Mann. Er war einmal der Anwärter auf das Amt der Pontifex eines sehr bekannten und ungeheuer reichen Ordens in Südindien. "In den vergangenen fünf Tagen habe ich Ihre Biographie über U.G. ins Kannadaische übersetzt, sagt er voller Stolz, wohlwissend, daß mich diese Neuigkeit sehr glücklich machen würde. Das tut sie wirklich. Ich hätte mir niemals vorstellen können, daß diese Biographie von U.G., die ich geschrieben habe, eines Tages in Telugu, Hindi, Kannada und auch Chinesisch übersetzt werden würde. Später ruft Swamiji nochmals an. Er geht U.G. um finanziellen Rat an. Er möchte sein Geld sicher investieren, damit er in der Zukunft keine Probleme haben muß. Swamiji wird alt, und wie alle normalen Menschen möchte er sichergehen, daß er im Alter genug haben wird, um davon leben zu können.

U.G. schlägt vor, er solle all sein Geld in die 'Valentine Model School' investieren und gibt ihm die persönliche Zusicherung, er würde sicherstellen, daß er daraus 1000 Rupien monatlich auf Lebenszeit erhalten wird. "Aber wir werden Ihren Körper auf den Müllhaufen werfen, wenn Sie sterben. Es werden keine religiösen Rituale vollzogen werden. Wir werden uns nicht darum kümmern, was mit Ihrem Leichnam geschieht. Wir werden ihn einfach dort beim Abfall lassen, als Leckerbissen für die Insekten. Sie werden auf Ihrem fetten Körper einen Festtag haben," warnt U.G. scherzhaft.

Ellen Chrystal sitzt neben mir und läßt in ihrem Gedächtnis noch einmal die Zeit aufleben, die sie in der 'Göttlichen Präsenz' von Da Free John, des selbsternannten amerikanischen Avatars, verbracht hat. Bizarre Erzählungen von Freß- und Sexorgien finden ihren Höhepunkt in der teilnahmslosen Darstellung dessen, wie sie mit dem Bhagwan geschlafen hat. Der charismatische Avatar ließ sich nur dazu herab, mit einigen wenigen weiblichen Anhängerinnen, die er für hochentwickelt hielt, tantrischen Sex zu haben. Dieser Akt, sagte der Avatar, würde zwischen ihm und der Anhängerin einen ewigen Bund schmieden, so erzählt sie. Diese Szenen aus ihrem Leben dienen als starkes Vergrößerungsglas, durch das wir einen genauen und scharfen Blick auf die Ausschweifungen erhalten, die im Namen der 'göttlichen Liebe' im 'Heiligen Geschäft' stattfinden.

"Die Welt hat niemals zuvor einen Zuhälter von der Größenordnung eines Rajneesh gesehen, noch wird sie das jemals tun. Zuhälter nehmen wenigstens nur das Geld von den Jungen und geben es den Mädchen. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt von dem Schnitt, den sie dabei machen. Aber Rajneesh nahm das Geld von beiden, den Jungen und den Mädchen, und behielt alles für sich," sagt U.G., und greift damit die Rajneeshis scharf an, die sich versammelt haben, um ihn heute zu besuchen.

"Ich werde Mahesh zerstören. Richte ihm aus, er solle persönlich zu mir kommen und mir mein Mala zurückgeben. Das ist ein Vertrauensbruch. Er kann das nicht tun. Ich habe hart gearbeitet...," sagte Rajneesh zu meinem Freund, dem Schauspieler Vinod Khanna, vor langer Zeit, im Jahre 1978. Damals war ich ein Sannyasi von Rajneesh. Der Bhagwan konnte die Nachricht nicht verkraften, daß ich sein Mala ins Klo geschmissen und ihn verlassen hatte. Warum hielt er weiterhin Vorträge über 'die bedingungslose Liebe', fragte ich mich. Er benahm sich genau wie ein Liebhaber, dem man den Laufpaß gegeben hatte. "Die leeren Drohungen des Rajneesh haben offenbar nicht gewirkt. Sie sind immer noch hier, und er ist tot und vergangen," sagt U.G. und bringt damit das Thema der 'heiligen Männer' zum Abschluß.

Wir haben uns in Lausanne verirrt und suchen nach einem Restaurant, das Pizza verkauft. Es ist Sonntag, und die Stadt ist leer. "Verbrennen Sie alle Karten. Was ist schon dabei, wenn man sich verläuft? Man kann jederzeit umkehren. Ihre Befürchtung, ob Sie auch in die richtige Richtung gehen, läßt Sie immerzu die falsche Richtung einschlagen. Schauen Sie! Denken Sie nicht!" sagt U.G., wohlwissend, daß es ihm nicht gelingen wird, Paul diesen Punkt zu vermitteln. Seit Jahren ist das ein ständiges Gesprächsthema zwischen Paul Sempé und U.G. Schließlich gelangen wir an unseren Bestimmungsort, indem wir U.G.s 'Hundeinstinkt' anwenden.

Die Menschen haben anscheinend immer den Zwang verspürt, die Dinge aufzuzeichnen und Markierungen zu setzen, die das Gedächtnis anregen. Die Historiker nehmen an, daß das Bison, das an die Höhlenwand gemalt wurde, der erste Tagebucheintrag der Menschheit war. Man bedenke nur, wir machen ein paar abstrakte Zeichen auf ein Stück Papier in einer bestimmten Ordnung, und jemand in einer anderen Welt und in tausend Jahren kann unsere tiefsten Gedanken erkennen. Schreiben transzendiert die Grenzen von Raum und Zeit, und sogar die Begrenzungen des Todes.

7. August ... Neunundzwanzigster Tag

Ende: Zeit sich aufzumachen. Ich habe meine Koffer gepackt und werde morgen nach London abreisen. Ich werfe mich in meinem Bett hin und her, während ich versuche einzuschlafen. Ich kann nicht schlafen. Ich gehe in die dunkle Nacht hinaus und betrachte den mondhellen Himmel. Eine seltsame Frage beginnt sich in meinem Innern zu formen. Wer bin ich jetzt? Bin ich auf irgendeine Weise verschieden von dem Mann, der hier vor dreißig Tagen angekommen ist? Während ich dasitze und versuche, diese Frage zu beantworten, entdecke ich allmählich, daß ich in der Geschichte meines eigenen Lebens ein Fremder bin, und daß ich das immer bleiben werde. Nach Bombay zurückkehren, um dort wieder anzuknüpfen, wo man aufgehört hat, fühlt sich an, als würde man erneut einen Roman zur Hand nehmen, den man vor vielen Sommern weggelegt hat. Es ist leicht, den Faden seiner eigenen Geschichte zu verlieren. Wenn ich durch die Collage der tausend Bilder aus dieser Zeit blättere, die ich  hier in der Schweiz mit U.G. verbracht habe, dann kommt es mir so vor, als hätte ich sie auseinandergenommen und dann auf eine neue Weise wieder zusammengesetzt. Ein Schriftsteller findet erst dann zu seinem Handwerk, nachdem er vom Leben irgendwie gebrochen wurde. Nachdem ich diese dreißig Tage und Nächte in Gstaad durchlebt habe, weiß ich, daß nichts für mich sein wird wie zuvor. Die Menschen bezahlen viel Geld, um einen Vorgeschmack auf den Tod zu erhalten. Skispringen, Bungeespringen und furchterregende Achterbahnfahrten geben den Menschen einen Ruck, der sie aufweckt und sie zu einer volleren Würdigung des Lebens gelangen läßt. Aus diesem Grund sind Abenteuerfilme und -geschichten stets populär, weil sie eine weniger riskante Möglichkeit bieten, Tod und Wiedergeburt durch Helden, mit denen wir uns identifizieren können, zu erfahren.

U.G. ist mein Held. Daß ich gekommen bin, um U.G. hier zu treffen, ist möglicherweise meine Art, den Vorgeschmack des Todes zu kosten und dann ins Leben zurückzuspringen. Nachdem ich all die schweren Prüfungen dieses Sommers überlebt und eine Art von 'Tod' durchlebt habe, kehre ich heim. Ich habe auf den Schultern dieses Riesen, genannt U.G., gestanden und konnte einen Blick auf eine Welt werfen, die furchterregend ist. Ich kenne dieses Phänomen namens U.G. nun schon seit achtzehn Jahren, aber noch nie habe ich in seiner Gegenwart das gefühlt, was ich in diesem Sommer gespürt habe. U.G. beeinflußt die Menschen jetzt physisch. "Mystifizieren Sie es nicht...," sagte U.G. an einem ruhigen Abend, als ich mit ihm alleine über meine Erfahrungen sprechen konnte. Ich gelobe mir, das nicht zu tun. Aber das Geschichtenerzählen begann wahrscheinlich mit Leuten wie mir, die sich abmühen, ihre Erlebnisse und Abenteuer der Welt da draußen zu erzählen.

Kinder bringen gerne Souvenirs von ihren Sommerferien mit, zum Teil, um sich an die Reise zu erinnern, aber auch, um den anderen Kindern zu beweisen, daß sie wirklich diese exotischen Schauplätze besucht haben. Es ist ein gebräuchliches Märchenmotiv, daß die Wahrheit, die von der Zauberwelt zurückgebracht wird, die Neigung hat, sich zu verflüchtigen. Ein Sack voller Goldmünzen, der von den Feen erlangt wurde, wird dann, wenn man ihn in der 'gewöhnlichen Welt' öffnet, wahrscheinlich nichts als verwelkte Blätter enthalten und die anderen Menschen dazu bringen, zu glauben, daß der Reisende wohl nur geträumt haben muß. Und doch weiß der Reisende, daß seine Erfahrung wirklich war. Alle tiefempfundenen emotionellen Erfahrungen sind anderen schwer zu erklären, und oft auch einem selbst.

8. August ... DREIßIGSTER TAG

"Indien hat keine Zukunft. Ihr dort habt Eure Freiheit auf einem Tablett serviert bekommen. Die Inder haben kein Blut vergossen. Glauben Sie, Sie hätten die Freiheit auf Grund der Reden erhalten, die Ihre Führer gehalten haben? Nein, Sie müssen Hitler und den Deutschen dafür danken. Britannien war nach dem zweiten Weltkrieg im Chaos. Es wurde für die kriegsmüden Engländer viel zu mühsam, an seinen Kolonien festzuhalten. Also ließen sie Indien gehen. Selbst die USA sollten Hitler für das, was sie heute sind, dankbar sein. Der zweite Weltkrieg gab ihrer Kriegsindustrie den entscheidenden Auftrieb. Aber genug ist genug. Die Vereinigten Staaten und die Industrienationen haben sich nun schon zu lange gegen den Rest der Welt verschworen und ihn tyrannisiert. Sie müssen aufgehalten werden, und das, fürchte ich, wird durch die islamitischen Fundamentalisten oder China geschehen."

"Über Indien weiß ich nicht Bescheid, aber was er über Amerika und die westlichen Nationen sagt, ist wahr. Aber ich halte meinen Mund. Es ist zu subversiv. Ich könnte meinen Job verlieren. Wenn ich all das in meinem Land sagen würde, dann würden sie mich verhaften und ins Gefängnis stecken..," sagt Jim, ein amerikanischer Jude, der seit langem in Europa lebt, am Ende einer angeregten Diskussion, die durch meine an U.G. gerichtete Frage über die Zukunft Indiens ausgelöst worden war. Im weiteren Verlauf des Abends  lenkt U.G. die Aufmerksamkeit auf die harten ökonomischen Realitäten, mit denen sich die Welt konfrontiert sieht. Das läßt mich in einem Morast von Depression versinken.

Robert Towne, der das Drehbuch von 'Chinatown' verfaßt hat, sagt, daß der Vorgang des Schreibens auch gleichzeitig ein Akt des Beiseitelegens ist. Sobald man eine Erfahrung aus seinem Innern entfernt, ist sie verschwunden. Wenn man sie einmal objektiviert hat, ist sie gewissermaßen (wie ein böser Geist) gebannt. Sie gehört einem nicht mehr. Wenn der Sand in den Bauch der Auster gerät, besteht ihre Reaktion darin, um ihn herum dieses Ding zu drehen, um sich zu schützen. Der Sand wird dann zur wunderschönen Perle. Die Absicht der Auster war es nicht, sie zu bewundern, sondern etwas loszuwerden, das wehtut.

"Sind Sie bereit für die abschließende Botschaft?" sagt U.G. als er in den Vordersitz sinkt und die Sicherheitsgurte anlegt. "Ja," wispere ich, und hole meinen Taschenkalender hervor, um das, was er gleich sagen wird, zu notieren. "Solange die Menschheit nicht die nackte Wahrheit akzeptieren kann, daß sie nicht wichtiger ist als ein Mosquito oder die Feldratte, ist sie zum Untergang verurteilt. Dieses Individuum namens U.G. ist nur ein Tier, nichts weiter."

"Was immer mit mir geschehen ist, kann nicht dafür verwendet werden, mich herauszustellen oder irgendeine dem Wohlergehen der Menschheit dienende Sache zu fördern. Was ich sage, unterminiert die Grundlage menschlichen Denkens. Wie kann die Gesellschaft an dem, was ich sage, interessiert sein? Die Natur nimmt keine Vorbilder an. Ich kann darüber keine definitive Aussage machen, aber selbst in physischer Hinsicht ist es diesem hier (deutet auf sich) nicht möglich, etwas wie sich selbst zu erzeugen. Es bleibt jedem frei, abzuschätzen, ob das Sperma dieses Individuums ein weibliches Wesen befruchten kann oder nicht. Es liegt nicht in meinem Interesse, ein Versuchskaninchen für die Medizintechnologen zu werden, die in jedem Fall alle neuen Einsichten, die sie im Laufe ihrer Experimente gewinnen, nur dazu verwenden werden, im Endeffekt Leben zu zerstören. Alles, was sie bisher über den Körper herausgefunden haben, hat nicht dazu beigetragen, die dem Körper eigene Intelligenz zu verstehen, mit der er geboren wird. Die natürliche Immunität des Körpers wird von allem, was sie machen, zerstört. Wenn der Körper tot umfällt, wird er von der Natur recycled werden, um den Boden anzureichern. Kurz, er wird einfach verrotten."

Seine Selbstdemolierung ist so total und vollständig, daß es mich erschaudern läßt. Als ich wegschaue, sehe ich, wie der Vollmond gerade seinen Aufstieg in den dunklen, kalten Himmel beginnt.

Ein schimmernder neuer Sonnenaufgang ist da. Wir sind nur noch fünfzig Kilometer von Genf entfernt. Plötzlich wendet sich U.G. uns zu. Das goldene Glühen des Morgenlichts läßt ihn himmlisch aussehen. Als wir durch ein Sonnenblumenfeld fahren, sagt U.G.: "Ich habe Bob und Paul hier nach Gstaad eingeladen. Ich möchte, daß sie während ihres Hierseins ihr Leben in die richtige Bahn bringen. In ihrem Innern bestehen Konflikte, von denen ich möchte, daß sie sie lösen. Meine Hilfe für Sie, liebe Leute, kann sich nur auf das Gebiet Ihrer praktischen Lebensführung erstrecken." U.G.s Anteilnahme zeigt sich in seinen Taten und nicht in Worten. Glauben Sie ihm nicht, wenn er sagt: "Ich werde nicht einmal den kleinen Finger rühren, um irgend jemandem zu helfen. Sie können in der Hölle verrotten..." Das ist eine Lüge. Er ist der besorgteste Mensch, den ich in meinem ganzen Leben getroffen habe.
 

Während ich durch 'Immigration' gehe und dabei den Nachgeschmack meiner Erlebnisse mit U.G. in Gstaad koste, höre ich plötzlich seine Stimme in mir: "Alle Erfahrungen, gleichgültig wie außergewöhnlich sie auch sein mögen, trennen Sie vom Leben. Sie werden niemals wissen, was das Leben ist, niemals..." Als mein Flugzeug vom Genfer Flughafen abhebt und Richtung auf London nimmt, stelle ich mir wieder einmal die zeitlosen, kindlichen Fragen: "Wer bin ich? Woher bin ich gekommen? Was geschieht, wenn ich sterbe. Was bedeutet es? Wo passe ich hin? Wohin gehe ich? Nach Hause, Dummkopf! Nach Hause."